Ausgehen und rumstehen von Jens Uthoff
: Orgel und Krach samt Oberlippenbartpflicht

Foto: taz

„Wo ist das Ende der Schlange?“, fragen die ankommenden Leute im Minutentakt. Die erste Challenge besteht am Freitagabend vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche darin zu ergründen, wo man sich hinten anstellen muss. Der Kiezsalon veranstaltet hier ein Orgelkonzert der schwedischen Doompop-Queen Anna von Hausswolff. Von Hausswolff hat ihr instrumentales Album „All Thoughts Fly“ komplett auf einer Kirchenorgel in Göteborg eingespielt, jetzt tourt sie durch die Kathedralen Europas. Mehrere hundert Leute stehen vor der Gedächtniskirche. Impfzertifikate, Ausweise und Tickets werden kontrolliert, das dauert.

Am Platz in der Kirche angekommen, inmitten des großen Oktogons mit den farbig schimmernden Mosaiken, bleibt genug Zeit, sich den heimlichen Star des Abends anzusehen, die Orgel auf der Empore. Mehr als 500 Pfeifen ragen da hoch und in den Raum, auch stumm ist sie schon ein Kunstwerk. Kurz nach neun geht’s los. Man sitzt mit dem Rücken zur Orgel, vom Auditorium aus sieht man von Hausswolff und ihre beiden Mitmusiker Gianluca Grasselli und Joel Fabiansson nicht. Volle Konzentration auf den Klang.

Und der ist toll. Von Hausswolff spielt anfangs ein Stück, bei dem die Töne die Tonleiter hochzuklettern scheinen, da bekommt man direkt mal den ganzen Wums der Orgel zu spüren („Theatre Of Nature“). Kurz darauf folgt das ruhigere „Dolore di Orsini“, bei dem man auf angenehme Art und Weise beginnt abzuschalten. In der Folge ertönen mal zitternde hohe Klänge wie ein Grillenzirpen, mal fühlt man sich an Fanfaren erinnert, dann wieder tönt es lang anhaltend und doomig. Nach einer halben Stunde ist das spektakuläre Hörerlebnis vorbei – beim Kiezsalon ist es Konzept, dass die meist experimentellen Sets nur eine halbe Stunde dauern. Nach dem Auftritt treffe ich Roland Owsnitzki endlich mal wieder. Er fotografiert seit zig Jahren bei Konzerten in Berlin, so auch an diesem Abend, und er zeigt mir auf dem Display, was man zuvor von unten nicht sehen konnte: sechs Hände, die nach vielen, vielen Tasten greifen. Mit Bleistiften hantiert von Hausswolff an den Orgeltasten herum; wie wir erfahren, fixiert sie damit die Tasten, setzt die Stifte ein wie ein Tonhaltepedal.

Die erste Anlaufstelle ist auch am Samstagabend das Testzentrum am Kotti, nach negativem Befund geht es zum Synästhesie-Festival in die Kulturbrauerei. Es ist der zweite Festivalabend, die britische Math-/Krautrock-Combo Beak> ist der Headliner. Allein ihr Auftritt lohnt das Kommen. Repetition lautet das Zauberwort, der Krautrock-Motor tuckert bei dem Trio um Geoff Barrow unermüdlich vor sich hin, es entsteht eine hypnotische Musik, der man Stunden zuhören könnte. Unterhaltsam sind Beak> obendrein, Bassist Billy Fuller fragt zwischendurch, ob in Berlin Oberlippenbärte eigentlich verpflichtend seien. Keine unberechtigte Frage, wenn man sich so im vollen Kesselhaus umsieht.

Es gibt noch weitere erwähnenswerte Auftritte, etwa jene der Berliner Songwriterin Thala oder der deutschbritischen Darkpop-Künstlerin Anika. Der Wahnsinn aber sind Jealous, die im kleinen Raum des Ramba-Zamba-Theaters eine Krachorgie veranstalten. Jealous ist ein Berliner Noiserock-/Garage-/Punk-Trio, bestehend aus den beiden Riot Grrrls Dane Joe (Gesang/Bass) und Paz Bonfil (Gesang/Gitarre) sowie Schlagzeuger Uri Rennert. Die drei holen den größtmöglichen Schreddersound aus ihren Instrumenten heraus, es fiept, dröhnt, scheppert. Die beiden Frauen tragen ein Outfit, das Courtney Love vor Neid erblassen ließe: Dane Joe ein schwarzes Lack-Bodysuit, Paz Bonfil roten Rock und Strapse. Irgendwann rutschen sie Gitarre spielend auf den Knien, die maskuline Rockpose dekonstruierend. Vor der Bühne wird gepogt, mit Maske, ohne Maske. Gegen Ende sagt Dane Joe: „Sorry for the Capitalism, but we’ve got a few remained records to sell after the show.“ Die werden ihr innerhalb weniger Minuten aus der Hand gerissen.