: Wie ein trockener Grashalm, der über die Gefängnismauer schwebt
Bachtyar Ali erzählt eine Parabel mit märchenhaften Motiven und tragischem Hintergrund: „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“
Bachtyar Ali: „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“. Aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim. Unionsverlag, Zürich 2021, 160 Seiten, 20 Euro
von Fokke Joel
Wahre Heimatlosigkeit“, sagt Bachtyar Alis Held in „Die Stadt der weißen Musiker“, „sprengt die Kette, die uns an die Zeit kettet. Heimatlosigkeit, das heißt Unsterblichkeit, heißt: nicht in einer Zeit stecken bleiben, nicht in einer Ecke der Geschichte festsitzen. Heimatlosigkeit ist eine endlose Bewegung in alle Richtungen.“ Der aus dem irakischen Teil Kurdistans stammende Autor, der seit den 1990er Jahren im Exil in Köln lebt, macht so aus der Not eine Tugend. Auch in seinem neuen Roman, „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“, geht es letztlich um Heimatlosigkeit.
Erzählt wird die Geschichte von Djamschid Khan, der sich während seiner Schulzeit den irakischen Kommunisten angeschlossen hatte. 1979 wird er von den Schergen der Baath-Partei Saddam Husseins verhaftet und gefoltert. Wie Salar, der Neffe und Erzähler der Geschichte Djamschids, sagt, bleibt er zwar standhaft und verrät keinen seiner Genossen; aber er nimmt aufgrund der Misshandlungen und des Hungers im Gefängnis immer mehr ab, bis er am Ende nur noch Haut und Knochen ist.
Und obwohl er später so viel vergisst, erinnert er sich bis zuletzt an seinen ersten Flug, mit dem er bei einem Gang über den Gefängnishof verschwand: „Ein Schwindelgefühl und eine unsagbare Angst befielen ihn. Wie ein trockener Grashalm kam er sich vor, federleicht vom Wind entführt und emporgerissen, hoch über die Gefängnismauern hinaus.“
Märchen, so der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich, sind unsere realistischste Literatur. Denn unsere unbewussten Wünsche und Ängste, die in ihnen stecken, prägen unsere Realität mehr als unser Bewusstsein. Vielleicht akzeptiert man auch deshalb als aufgeklärter Leser so schnell die märchenhaften Elemente des Romans. Gleichzeitig ist der magische Realismus Bachtyar Alis Ausdruck der tragischen Geschichte der Kurden.
„Das Problem ist“, hat er in einem Porträt des Österreichischen Fernsehens gesagt, „die Katastrophe ist bei uns so groß, dass sie unerzählbar geworden ist. Als Schriftsteller habe ich immer versucht, die Katastrophe, all dieses Unglück erzählbar zu machen.“
Nach seinem Flug durch die Nacht stürzt Djamschid bewusstlos auf das Dach einer Autowerkstatt. Seine Familie nimmt ihn wieder bei sich auf und versteckt ihn in einem kleinen Dorf in den Bergen, aus dem sie stammt. Der Erzähler, sein nur drei Jahre jüngere Neffe Salar, wird vom Familienrat zusammen mit seinem gleichaltrigen Cousin Samil dazu verpflichtet, auf Djamschid aufzupassen.
Die beiden sind die erste Wahl für diese Aufgabe, weil sie als Taugenichtse gelten. Salar hat nur Mädchen im Kopf, und Samir würde am liebsten seine Zeit mit dem Lernen und Lesen von Fremdsprachen verbringen. Beide haben keine Lust auf die Schule und sind bereits zweimal sitzengeblieben. Um Djamschid am neuerlichen Wegfliegen zu hindern, binden sie ihm ein Seil ans Bein. Weil Djamschid seine ursprüngliche Angst vorm Fliegen überwunden hat, lassen Salar und Samir ihn immer wieder wie einen Drachen zum Himmel aufsteigen.
Doch trotz seiner beiden Aufpasser wird Djamschid immer wieder vom Wind mitgerissen. Beim Aufprall auf die Erde verliert er sein Gedächtnis. Er wird zum Heimatlosen, der nicht nur den Kontakt zur Erde verliert, sondern auch zu seiner Vergangenheit. Immer wieder beginnt er sein Leben neu. Immer wieder trägt ihn der Wind fort und lässt ihn beim Sturz auf die Erde alles vergessen. 1980 wird er von der irakische Armee entdeckt und zusammen mit Salar und Samir zu Aufklärungsflügen über die Schlachtfelder des Kriegs gegen Iran gezwungen. Danach kommt er unter anderem als Fluchthelfer in Istanbul auf die schiefe Bahn, wird als Attraktion von reichen Kurden wie ein Affe gehalten und erpresst Politiker in den sozialen Medien mit seinem aus der Vogelperspektive gewonnenen Insiderwissen.
„Mein Onkel, den der Wind mitnahm“ ist eine Parabel. Die Heimatlosigkeit, zu der Djamschid Khan verurteilt ist, lässt sich auf das Schicksal aller Flüchtlinge übertragen, auch auf Bachtyar Ali selbst. „Das Einzige“, sagt sein Alter Ego Salar am Ende, „was mich jemals am Boden gehalten hat, waren diese Seile, an denen ich Djamschid Khan hielt. … Ich habe das Gefühl, dass mich der Wind wegwehen will. Ich halte mich fest, um nicht hinzufallen. Ich merke, dass sich eine große Angst vor Himmel und Wind in mir breitmacht. Damit Djamschid Khan nicht vergessen wird, … gehe ich schnell hinein, setze mich an den Schreibtisch und beginne zu schreiben.“
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