piwik no script img

Helden sind auch nur Menschen

Über ein Buch, das mehr sein könnte, sich aber nicht getraut hat: Flurin Jeckers „Ultraviolett“ taumelt vor sich hin

Von Charlotte Eisenberger

Das Leben ist immer alles gleichzeitig. Partys und Drogen, Freundschaften und Liebe, Trauma und Verluste, der aktuelle Job, Geld, Leichtigkeit, Tränen, Schmerz. Alles. Dass auch die Teile von einem selbst dazugehören, die man nicht sehr mag, vor denen man unter Umständen sogar höllische Angst hat, will nicht immer einfach in den Kopf hinein. Es ist wohl der größte Akt des Erwachsenwerdens, sich selbst zu akzeptieren, und es ist gleichzeitig eine unglaublich jugendliche Eigenschaft, zu glauben, dass „Spaß“ bedeutet, alles Ernsthafte auszusperren und sich selbst im Rausch aufzulösen.

Im neuen Roman „Ultraviolett“ von Flurin Jecker wird der Protagonist Held diese Selbsterkenntnis erst realisieren und in fröhlichem Taumel seines selbstzerstörerischen Lebensstils wieder verlieren. Held ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Held, jedenfalls ein Held des Partymachens und Drogennehmens und ein Held der Verdrängung, des Ignorierens seiner eigenen Hilfeschreie.

Denn Held ist nach Berlin entflohen vor den Geistern, die ihn seit seiner Kindheit in der Schweiz quälen. Durch diese Geister beschreibt Held Phasen, in denen er nicht weiß, was mit ihm los ist; in denen er nur weiß, dass etwas nicht stimmt, und in denen er Angst hat. Sie sind entsprungen aus seiner Einsamkeit und der fehlenden Beziehung zum Vater, und als er nach Berlin zieht, werden sie leiser, denn sein Leben ist plötzlich angefüllt mit Dingen, die ihm scheinbar das geben, was er immer gesucht hat.

„Als Eule mich in die Bucht einlud und ich dastand und tanzte, und die Lichter blitzten, und der Bass wummerte, fühlte ich mich, wie sich wahrscheinlich meine Mutter in Cinque Terre gefühlt hatte. Ich war im Paradies. Eule zeigte mir die Stadt, stellte mich unzähligen Leuten vor und nahm jede Nacht als ein Abenteuer, das uns an einen schönen Ort bringen würde. Ich wusste, dass mir nichts passieren konnte, solange ich nur hierbliebe.“

Eule, der für ihn Vaterfigur und bester Freund in einem ist und Held dieses Leben zeigt, bringt sich um. Was Held erst zu realisieren vermag, als er zwischen Partys, Drogen und einem Job bei einem Techno-Magazin Mira kennenlernt, die ihm einen anderen Lebensentwurf zeigt. Einen, in dem man für etwas lebt, und nicht lebt, um etwas zu entfliehen. Verwirrt stellt Held fest, dass die Geister wieder überhandgewinnen, obwohl er dabei ist, sich in Mira zu verlieben, und obwohl er langsam versteht, dass Eule nicht wiederkommen wird.

Um nicht völlig in seinem selbstgebauten Sumpf der Verdrängung zu verschwinden, beginnt Held damit, erst unbewusst, dann immer bewusster, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Mira ist der Funke, den Held braucht, um anzufangen, sich wirklich ernsthaft mit dem Leben auseinanderzusetzen, was der Autor geschickt und ohne Kitsch herausstellt. Mira fragt Held, ob er sie in die Schweiz begleiten möchte, und es beginnt eine Reise, in der Held versucht, seine Geister abzuschütteln, was ihm auch ohne große Anstrengung gelingt, nachdem die erste Hürde geschafft ist.

Und genau dort liegt der große Schwachpunkt der Ge­schicht­e: Die Nichtbeziehung zum Vater entpuppt sich als das Schlüsselproblem von Held und Antwort auf die Geister und warum er nach Berlin geflohen ist und sich so sehr an Eule hängt. Dass aber die Geister nach einem Kurztrip in die Schweiz besiegt seien sollen, hinterlässt Irritation. Die Probleme scheinen schwerwiegender zu sein, als dass sie einer so einfachen Lösung bedürfen, denn sein jugendliches Ich hinter sich zu lassen ist eine Sache, Traumata zu bewältigen eine andere.

So löst sich die ganze Geschichte darin auf, dass Held wieder zurück nach Berlin kommt, anscheinend geheilt und nun mit seinem inneren Kind versöhnt eine Abschiedsparty für Eule organisiert, auf der natürlich Techno gespielt und Drogen genommen werden. Man könnte meinen, dass ab hier der Roman erst richtig anfängt, denn das Problem ist erkannt.

Statt aber einen glaubwürdigen Ansatz für die Verarbeitung von schwerwiegenden Erlebnissen zu liefern, geht es wieder ans Pillenschmeißen. Und warum? Weil es Spaß macht.

Flurin Jecker: „Ultraviolett“. Haymon Verlag. Innsbruck 2021, 224 Seiten, 19,90 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen