Die große Bergedofer APO-logie

Sich den kritischen Fragen auch der Bergedorfer außerparlamentarischen Opposition stellen? Da setzte Bundestagskandidat Helmut Schmidt (SPD) doch lieber auf effiziente Wasserwerfer gegen alle und jeden: Der Historiker Arne Andersen hat untersucht, worin die Besonderheit der APO im eigenständigen Südosten Hamburgs bestand – und ist dafür auch in seine eigenen Jugendjahre eingetaucht

Im Promi-Lokal „Kuhberg“ fühlte sich Helmut Schmidt sicher, auch wenn Arne Andersen und eine breit aufgestellte APO in Bergedorf nur einen Steinwurf weit weg demonstrierten Foto: Foto:Miguel Ferraz

Von Frank Keil

Helmut Schmidt kommt damals übers Wasser. Ist irgendwo auf dem Schleusengraben, der von der Dove-Elbe Richtung Bergedorf führt, in ein Polizei- oder Feuerwehrboot gesetzt worden, war dann den schmalen Kanal nordwärts entlanggefahren und nimmt dann den Hintereingang zum im Herzen von Bergedorf gelegen Lichtwarkhaus, dem örtlichen Veranstaltungszentrum.

Ab 19 Uhr soll er dort am 26. August 1969 im großen Saal sprechen. Doch bereits eine Stunde zuvor sind alle Stühle vergeben, überwiegend besetzt mit bestellt Angereisten aus Hamburg. Auf der Straße davor aber warten rund 2.000 Bergedorfer Bürger und Bürgerinnen: Sie wollen dabei sein, wenn sich der einstige Hamburger Innensenator und sagenumwobene Sturmflut-Bezwinger um das Bergedorfer Bundestagsmandat im Deutschen Bundestag in Bonn bewirbt, wo er doch selbst im fernen Langenhorn wohnt, also in Hamburg-Nord.

Denn Bergedorf und Hamburg, das ist und bleibt eine ganz eigene Geschichte: Bergedorf stand zwar bereits seit dem Jahr 1420, wenn auch als eigene Stadt, unter Hamburgischer Verwaltung, kam aber 1938 mit dem Großhamburg-Gesetz mit letzten Formalien und Details endgültig zur Hansestadt, ist Hamburger Bezirk, doch bis heute fremdeln die Ber­ge­dor­fe­r:in­nen mit Hamburg, und Bergedorf bleibt Bergedorf und wird es wohl immer bleiben.

Wir stehen an der Kreuzung Bergedorfer Straße/Vierlandenstraße, an historischem Ort. Denn hier stand damals auch Arne Andersen inmitten seiner Genoss:innen, Aktivisten eines losen, aber ernsthaften Netzwerkes namens „Bergedorfer APO“, über die Helmut Schmidt so geurteilt hatte: „Ich kenne die APO Bergedorf. Ich habe sie lieber draußen als im Saal.“ Nun sind die APO-Leute etwas ratlos: „Wir hatten dazu aufgerufen, Schmidt zur Rede zu stellen, aber das war nun nicht möglich“, sagt Andersen. Was macht man in einer solchen Situation?

Man machte das, was man damals eben tat: Man organisiert eine Demonstration. „Wir zogen los, obwohl sonst kein Mensch auf der Straße war, erst mal zum Rathaus, wo natürlich keiner mehr war, der hätte unseren Protest auch nur zur Kenntnis nehmen können.“ Dann zieht die Menge wieder zurück zum Lichtwarkhaus, wo Schmidt seine Rede beendet hat und die SPD-Leute nach und nach in die Busse steigen, nun umringt von den Bergedorfern, für viele war es vermutlich die erste Demonstration in ihrem Leben. „Wir stellten uns um einen der Busse und wippten den so sachte hin und her“, erinnert sich Andersen mit wachsender Erzählfreude: „Und die Bergedorfer standen drum herum und schauten interessiert zu.“ Dann kommen die Wasserwerfer.

„Wir wussten, was ein Wasserwerfer ist“, erzählt Andersen weiter: „Und so schoben wir uns langsam in die dritte und vierte Reihe, während die Bergedorfer weiterhin schauten, was da vorne wohl passiert.“ Bald würden auch die Bergedorfer wissen, was ein Wasserwerfer ist, und vor allem, was er kann.

Die örtliche Bergedorfer Zeitung quoll in den nächsten Tagen über vor empörten Leserbriefen, die Sache mit den durchnässten Bergedorfern machte überregional die Runde. Schmidt musste sich entschuldigen, schaltete Anzeigen bis hin zum Spiegel, bat dennoch um Vertrauen und Stimme, was übrigens klappte: 12 Jahre lang wird Helmut Schmidt die Bergedorfer parlamentarisch vertreten. „Doch bis heute kann sich jeder aus Bergedorf, der damals dabei gewesen ist, an jenen Abend erinnern“, sagt Andersen noch.

„Die Bergedorfer APO“ heißt schnörkellos sein Buch, das diese und noch viele andere Geschichten erzählt und sie vor allem in den historischen Kontext von Nachkriegs-Ödnis, Wohlstands-Sattheit, notwendigem gesellschaftlichem Aufbruch, von Jugendbegehren und also 68er-Revolte einordnet; auch der Untertitel bewegt sich nicht ins Lyrische, enthält aber eine leichte Provokation den Bergedorfern gegenüber, nämlich: „Politischer Protest in der Hamburger Provinz“.Andersen bietet dabei eine Fülle an Fakten und Hintergründen, gespickt mit Auszügen aus Materialien wie Zeitzeugen-Interviews, wobei er zwischen Analyse und Bericht hin und her switcht, was in der Natur des Autors liegt: „Ich bin Historiker, aber ich war damals auch dabei.“ Andersen ist seinerzeit Schüler, er geht auf die Hansa-Schule, ein Gymnasium. Wo es damals ebenfalls bald hoch her geht; wo es die Schüler-, Eltern- wie Lehrerschaft etwa durchschüttelt, als manche der Lehrer besondere Spitznamen erhalten wie „Gestapo-Müller“.

„Wir wussten nicht, ob der Lehrer Heinz Müller bei der Gestapo gewesen war; wahrscheinlich war er es nicht“, sagt Andersen rückblickend. Doch die damalige Resolutheit hat ihren Grund: „Wir hatten noch Lehrer, die uns erzählt haben: ‚Ich habe sechs Russen mit dem Spaten erschlagen!‘“ Er setzt eine Pause: „Und da wurde eine Begrifflichkeit gesucht, und also waren das alles Nazis, auch wenn mancher von ihnen nur ein strammer Konservativer war.“ Diese Zuspitzung durch Vereinfachung galt auch fürs Große: „Auch die bürgerlichen Parteien wurden von uns mit dem Begriff ‚Faschismus‘ belegt, wo man später dachte: ‚Okay, ein bisschen mehr Präzisierung hätte der Sache gutgetan‘.“ Doch sie hatten damals ein Gefühl: „Es muss klar bezeichnet werden.“

Innere kulturelle Dynamik

Andersen beschreibt aber auch die inneren Dynamiken der Bergedorfer APO-Szene, nimmt uns mit in die erste Wohngemeinschaft, die sich gründete, erzählt von den verschiedenen Arbeitskreisen, die sich gründeten – etwa vom Frauen-AK, dem Faschismus-AK, über den AK Wirtschaft und Betriebe bis zur eigenen Zeitschrift namens APOTheke, weil es im APO-eigenen Treffpunkt eine Theke gibt. Erzählt auch von der damaligen Musik- und Ausgehszene, wie der von ihnen auserkorenen Stammkneipe, Ecke Wiebekingweg/Hinterm Graben, wo wir kurz halten: die Kneipe von Meta. „Wegen Meta-Ebene“, scherzt Andersen, klärt dann auf: „Wir hatten uns diese Kneipe ausgewählt, weil sie zentral lag und etwas Ursprüngliches hatte; sie war ein bisschen angeranzt und hinterm Tresen stand Meta.“ Wo man sich nach den manchmal endlosen Diskussionen erholt: „Wenn wir nach unseren Plenen zu Meta gingen, wo es Mettbrötchen und Buletten gab, war das die After-Work-Party.“

Wir gehen Richtung Fußgängerzone, biegen ab zum Bergedorfer Schloss, in dem neben einem Museum auch das Standesamt Platz gefunden hat: Gerade wird geheiratet, eine Hochzeitsgesellschaft verteilt sich ausgelassen über die Schlosswiese. Weiter geht es durch den Park Richtung Chrysanderstraße, wo sich das bürgerliche Bergedorfer Villenviertel erstreckt und wo wir im schönen Garten eines Cafés sitzen, während im Inneren eine Trauergemeinschaft auf Kaffee und Kuchen wartet – so nah liegt das alles manchmal beieinander.

„Wir hatten noch Lehrer, die uns erzählt haben: ‚Ich habe sechs Russen mit dem Spaten erschlagen!‘“

Arne Andersen, APO-Chronist
Eine im besten Sinne liberale Zeitung

Andersen nimmt einen Schluck Kaffee: „Das Besondere an der Bergedorfer APO war, dass sie nicht allein von Studenten bestimmt war. Sondern genauso haben sich Schüler und Schülerinnen, junge Arbeiter oder die Lehrlinge von der Maschinenfabrik Hauni beteiligt.“ Und dann eben Bergedorf: ein Städtchen, nicht zu klein und nicht zu groß, sodass jeder jeden kennt und man sich doch aus dem Weg gehen kann, um sich nach etwas Abstand wieder zu begegnen: „Wir haben das Bergedorfer Bürgertum damals schon angekratzt“, sagt Andersen. Und – wichtig – es hat sich ankratzen lassen.

Lob findet Andersen für die damals wichtige Bergedorfer Zeitung: „Es war eine im besten Sinne liberale Tageszeitung, die alle unsere Erklärungen abgedruckt hat.“ Was immer wieder dafür sorgt, dass die APO-Leute mindestens zu Gehör kommen. Auch, als im Juni 1969 erst die Aula der Hansa-Schule durch Brandstiftung zerstört wird und bald eine Holzhandlung folgt. Zwei führende APO-Leute sind sofort als Täter ausgemacht, von wegen: Die müssen das gewesen sein, also waren sie es.

Überführt werden schließlich zwei Schüler aus besserem Hause. Die Bergedorfer Zeitung druckt die Erklärungen der fälschlich Verdächtigten und kurzzeitig Verhafteten ab – und weist ausdrücklich darauf hin, dass ihnen Unrecht geschehen sei; keine Kleinigkeit damals. So entfaltet sich nach und nach das Panorama einer spezifischen wie allgemeingültigen Bewegung, immer wieder garniert mit vielen Nebensträngen und auch im Rückblick von einer Gewissheit getragen, die einen heute staunen lässt: wie ernst man sich selbst und die Sache mit der bevorstehenden Revolution doch genommen hat.

Immer wieder aber blitzen auch lokale Besonderheiten auf, bis ganz zum Schluss: Als sich die Bergedorfer APO im Frühjahr 1970 auflöst und die einen unbeirrt zur DKP laufen, die anderen sich im entstehenden Gewirr aus linken bis subkulturellen Kleinorganisationen neu orientieren, teilen sie das noch verbliebene Geld auf Mark und Pfennig untereinander auf. Ohne Streit, ohne Ärger.

Arne Andersen: „Die Bergedorfer APO – Politischer Protest in der Hamburger Provinz“, Kultur- & Geschichtskontor, Hamburg, 2021, 264 Seiten, 14,90 Euro