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Untier und Scheusal

Der Sozialwissenschaftler Peter-Erwin Jansen, Nachlassverwalter Herbert Marcuses und Leo Löwenthals, hat nun erstmals eine Auswahl des Briefwechsels der beiden Theoretiker ediert. Er vermittelt einen sehr guten Eindruck ihrer Beziehung

Von Philipp Lenhard

Untier“, adressiert der Philosoph Herbert Marcuse (1898–1979) am 7. Juli 1934 scherzhaft den Literatursoziologen Leo Löwenthal (1900–1993) und fährt fort: „da Sie ja sehr bald hier zu erwarten sind und in der ganzen Fülle Ihres aufgeschwemmten Leibes vor meiner schlanken Gestalt stehen werden, begnüge ich mich mit diesem kurzen Ausdruck meiner Freude ob des bevorstehenden Wiedersehens.“

Wer so schreibt, kennt sich gut. Dabei steht die letztlich fast ein halbes Jahrhundert währende Freundschaft zwischen den beiden Intellektuellen aus dem Kreis der Frankfurter Schule zu diesem Zeitpunkt noch ganz am Anfang. Gerade einmal zwei Jahre zuvor hatte Löwenthal mit Marcuse Kontakt aufgenommen, um ihn im Auftrag Max Horkheimers als Mitarbeiter für das Institut für Sozialforschung zu gewinnen.

Noch immer ist nicht ganz aufgeklärt, wie es zu dieser für beide Seiten ausgesprochen glücklichen Verbindung kam, denn die Vorzeichen waren eigentlich denkbar schlecht. Marcuses wissenschaftliche Karriere hatte gerade einen herben Dämpfer erhalten, da sein Lehrer Martin Heidegger ihm die angestrebte Habilitation verweigerte.

Peter-Erwin Jansen: „Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen“. Zu Klampen Verlag, Springe 2021, 284 S., 28 Euro

Das Institut für Sozialforschung wiederum bereitete sich 1932 schon auf eine mögliche Emigration vor. Vor allem Verwaltungschef Friedrich Pollock war dabei, vorsorglich Zweigstellen in London, Paris und Genf aufzubauen und in Kooperation mit Felix Weil und dessen Geschäftspartnern einen Großteil des Stiftungsvermögens in die Niederlande zu transferieren. Dennoch stellte das Institut Herbert Marcuse am 30. Januar 1933 als Mitarbeiter ein, nachdem Edmund Husserl und Kurt Rietzler, der damalige Rektor der Frankfurter Universität, sich für ihn eingesetzt hatten. Das Einstellungsdatum, das mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler zusammenfiel, war laut Aussage Löwenthals bewusst gewählt.

Marcuse sollte das bereits im Juli 1933 von der Gestapo wegen „staatsfeindlicher Bestrebungen“ geschlossene Institutsgebäude allerdings niemals betreten. Am 23. Juni reist Marcuse in die Schweiz, um an der Genfer Zweigstelle des Instituts an der berühmten Studie über „Autorität und Familie“ mitzuarbeiten, ein Jahr später emigriert er über Cherbourg in die USA. Das Ziel ist New York, wo Horkheimer soeben das der Columbia University angeschlossene „Institute for Social Research“ eröffnet hat.

Kurz nach der Ankunft im Big Apple schreibt Marcuse dann den eingangs zitierten Brief an seinen Vertrauten Leo Löwenthal in Genf, der bereits seit 1926 am Institut tätig ist und nun ebenfalls schnellstmöglich Europa verlassen soll. Es folgt ein gemeinsames Leben in Nordamerika, das Stoff für zehn Monografien böte. Erstaunlicherweise existiert bisher über keinen der beiden Denker eine ausführliche Biografie. Das ist insbesondere im Falle Marcuses erstaunlich, der ja nicht zuletzt als Ikone der Studentenbewegung diesseits und jenseits des Atlantiks große Berühmtheit erlangte.

Umso erfreulicher ist daher, dass der Sozialwissenschaftler Peter-Erwin Jansen, Nachlassverwalter Marcuses und Löwenthals, nun erstmals eine Auswahl des Briefwechsels ediert hat. Etwas versteckt in einem Sammelband mit Aufsätzen Jansens, zwei weitgehend unbekannten Essays von Marcuse und Löwenthal sowie dem Transkript einer Podiumsdiskussion Marcuses mit Norman Mailer und Arthur M. Schlesinger Jr. aus dem Mai 1968 kann man nun in 33 ausgewählten und vorzüglich edierten Briefen aus den Jahren 1934 bis 1979 nachlesen, was die beiden großen Intellektuellen umtrieb.

„Wären Sie jetzt mit mir zusammen“, schreibt der zerknirschte Löwenthal im Sommer 1934,„so hätten Sie wieder viel zu tun, um mich aufzurichten …“

Der durchgängig ironische, Vertrauen und Zuneigung ausdrückende Ton des Briefwechsels macht ihn zu einem Dokument der Freundschaft, wie Martin Jay in seiner Einleitung zu dem Band treffend anmerkt. Der geschützte Raum des freundschaftlichen Austauschs ermöglichte es auch, offen über Angelegenheiten zu sprechen, die seinerzeit besser nicht an die Öffentlichkeit geraten sollten: vom Spott über den Chef (Horkheimer) über Bordellbesuche bis hin zu Selbstzweifeln am eigenen wissenschaftlichen Werk. „Wären Sie jetzt mit mir zusammen“, schreibt der zerknirschte Löwenthal im Sommer 1934, „so hätten Sie wieder viel zu tun, um mich aufzurichten; d.h. Sie haben ja eher die Tendenz, mich in meinen Wunden weiterwühlen zu lassen, Sie Scheusal.“

„Untier“ und „Scheusal“ – solche nur auf den ersten Blick nicht ganz freundlichen Kosenamen zeugen von der persönlichen Sympathie, die auch in theoretischen und politischen Übereinstimmungen ihr Fundament hat. Wenig bekannt ist, dass Marcuse seine wissenschaftliche Karriere als Literaturwissenschaftler begann – Löwen­thals Hauptforschungsgebiet am Institut. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs arbeiteten beide für amerikanische Regierungsbehörden in Washington, Löwenthal für das Office of War Information, Marcuse für das Office of Strategic Services. Später, auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung, standen beide der ambivalenten Haltung Horkheimers und Adornos kritisch gegenüber.

Die wichtigste Gemeinsamkeit aber ist die Entscheidung, nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt in Amerika geblieben zu sein. Löwenthal bekleidete seit 1956 einen Lehrstuhl für Soziologie in Berkeley, Marcuse wurde nach mehreren Zwischenstationen Professor für Politikwissenschaft und Philosophie an der Brandeis University und seit 1964 an der University of California in San Diego. Da beide die letzten Jahre bis zu Marcuses Tod in Kalifornien lebten, sahen sie sich wieder öfter. Der Briefwechsel vermittelt einen authentischen Eindruck ihrer Beziehung.

Gerne läse man die fehlenden Zwischenbriefe, doch Jansen, der die beiden Nachlässe kennt wie kein anderer, hat aus Hunderten von Dokumenten eine Auswahl treffen müssen. Zwar ist das Interesse an der Frankfurter Schule nach wie vor groß, wie nicht zuletzt die neuen Werkausgaben von Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Alfred Sohn-Rethel und Friedrich Pollock zeigen, aber die Zeiten, in denen große Verlagshäuser noch alles druckten, auf dem das Etikett Kritische Theorie prangte, sind vorbei.

Es spricht für die kleinen Verlage, die sich selbst in der Tradition der Kritischen Theorie verorten, dass sie die Gelegenheit beim Schopfe packen und Bücher wie das vorliegende publizieren.

Der Autor ist Historiker und Biograf Friedrich Pollocks

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