Sich verlieren und sich finden

Michele Rizzo erforscht in seiner Performance „Reaching“ die stillen Momente eines Clubbesuchs – zu sehen im KW Institute for Contemporary Art

Blickt er nach innen oder außen? In Michele Rizzos „Reaching“ wird das Tanzen im Club als so einsame wie soziale Aktivität untersucht Foto: Frank Sperling

Von Beate Scheder

You’re not alone, I’ll wait till the end of time“ – einige Minuten ist die Performance „Reaching“ von Michele Rizzo schon im Gang, als ein Sample aus dem größten Hit der britischen Trip-Hop-Formation Olive aus dem Jahr 1996 erklingt. Die Zeilen, hypnotisch gesungen von Ruth-Ann Boyle, schälen sich heraus aus der Komposition von Billy Bultheel und ihren meist doch eher abstrakten Klängen, und fassen dabei ziemlich gut zusammen, worum es in der Performance „Reaching“ von Michele Rizzo geht: um das Bei-sich-sein und das Bei-anderen-sein, um jenes merkwürdige Hybrid aus Gemeinschaft und Vereinzelung also, das sich beim Tanzen in einem Club ergeben kann.

14 Performer*innen, die wie Personen aussehen, die man in Berliner Clubs antreffen könnte, befinden sich auf der zur Bühne umfunktionierten Halle des KW. Sie wiegen sich lautlos im Takt, bewegen sich in sachten Schritten, verfangen sich erst langsam, aber sicher im anfangs eher bedächtigen Sound, der sich mehr und mehr aufbaut, melodischer, rhythmischer, mitreißender wird, dröhnender und hämmernder auch, bis zu einem gewissen Punkt. Die Tanzenden nähern sich dabei aneinander an, entfernen sich wieder voneinander, folgen ein­ander, sondern sich ab. Gruppendynamiken entwickeln sich, nonverbal, hergestellt nur durch Bewegung und durch Blicke.

„Reaching“ ist übers Wochenende im KW Institute for Contemporary Art im Rahmen der Serie „Pause“ zu sehen. „Pause“, werden dort die immer für die Zeiten zwischen den Ausstellungen organisierten Veranstaltungen genannt, es sind künstlerische Arbeiten mit extrem kurzer Laufzeit. Ausverkauft sind die Vorführungen von „Reaching“ längst (was auch an den Begrenzungen von Be­su­che­r*in­nen­zah­len aufgrund der Pandemie liegt).

Für den Programmablauf des KW mag das so Sinn ergeben, für das Publikum ist es schade. Andererseits passt die Limitierung gewissermaßen auch zum Thema, zur Clubkultur, die auch nicht immer so inklusiv und offen ist, wie sie zu sein vorgibt. Jeder Club hat eine Tür.

Der rauschhaften Energie eines Raves hat Michele Rizzo, der 1984 in Italien geboren ist und mittlerweile in Amsterdam lebt, bereits in seiner Performance „Higher“ (2015) und deren Weiterentwicklung für das Stedelijk „Higher xtn.“ (2018) ästhetisch-choreografisch übersetzt. Seine folgenden Arbeiten bauen darauf auf. In einem Interview mit dem Magazin Cura erklärte er im Sommer, er betrachte seine Projekte als eine lange Saga, eine Art fortlaufender Form des Geschichtenerzählens, die jedes Mal ein neues Kapitel generierten.

Das jüngste nun, „Reaching“, kuratiert von Léon Kruijswijk, fällt im Vergleich mit „Higher“ beziehungsweise „Higher xtn.“ ruhiger, introspektiver aus. Gut passt das in diese Zeit, in der die Clubs nach langer Pause wieder öffnen, unter neuen Regeln zwar, aber immerhin. Sie passt zu diesem denkwürdigen Moment, der sich fast ein wenig so anfühlt, als wäre man in die frühe Jugend zurückversetzt worden und ginge zum ersten Mal auf eine Party und müsste die Regeln und Codes des Rituals erst noch erlernen.

Wie ging das eigentlich noch mal, dieses Ausgehen und Aus-sich-herausgehen? Dieses sich in der Masse und der Musik verlieren oder auch wiederfinden? Wie verhält man sich in einem Club und wohin dabei mit seinen Gedanken? Wann und wie steigert sich die Intensität des Empfindens? Wie entwickeln sich Euphorie und Ekstase und was, wenn nicht? In Rizzos Stück offenbart sich diese Stille im Lauten auch in den Blicken.

Zu Beginn, als sie sich zu Paaren zusammenfinden, sich berühren und umfassen, ganz zart und vollkommen unerotisch eigentlich, halten die Per­for­me­r*in­nen die Augen geschlossen, wirken ganz in sich versunken. Später im Verlauf werden die Blicke fordernder, auffordernder, sie suchen den direkten Kontakt zu anderen, zu dem einen oder der anderen, die sie sich im und für den Moment aussuchen.

Vom Publikum aus betrachtet wiederum, von der nächsten Ebene aus, wirken sie, wirkt all das, die Bewegungen, die Blicke, das ganze Ritual so vertraut wie fern. Man wird sich erst wieder hineinfinden müssen.

Bis 3. Oktober, KW (ausverkauft)