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Nach Präsidentenmord in HaitiHaitis Premier unter Verdacht

Haitis Interimspremier entlässt den Staatsanwalt. Der hatte zuvor eine Anklage des Regierungschefs wegen der Ermordung des Präsidenten beantragt.

Schlägt gegen die Justiz zurück: Haitis Premier Ariel Henry Foto: rtr

BERLIN taz | Nach der Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse am 7. Juli dieses Jahres geht der Machtkampf in Haiti in die nächste Runde. Der nach einigem Hin und Her und mit dem Segen der US-Botschaft ernannte Ministerpräsident Ariel Henry wurde vom Staatsanwalt Bed-Ford Claude mit einem Ausreiseverbot belegt, weil ihm Verbindungen zu den Mördern des Präsidenten vorgeworfen werden.

Der Premier soll in der Mordnacht zweimal mit einem der gesuchten Hauptverdächtigen telefoniert haben. Ungefähr gleichzeitig, ein wenig davor oder danach, wer weiß das schon, entließ Henry den Staatsanwalt. „Ich habe das Vergnügen, Sie über die Entscheidung zu informieren, Sie von Ihrem Amt zu entbinden“, heißt es in dem Entlassungsschreiben, das vom Sonntag datiert ist und am Dienstag veröffentlicht wurde. Am Montag war die Anklage bekannt geworden.

Wäre es nicht so ernst – auf den Straßen der Hauptstadt bedrohen Gangs jeden und jede –, würde man von einem Shakespeare-Stück sprechen, das in Haiti aufgeführt wird. Wobei es für das Publikum undurchschaubar ist, was auf der Bühne geschieht und wer hinter der Bühne die Regie führt und im Laufe der Aufführung auch noch das Skript ändert.

Was klar ist hingegen, hat ein Ende August vorgelegter 30-seitiger Bericht des haitianischen Menschenrechtsnetzwerkes RNDDH (Réseau National de Défense de Droits Humaines) öffentlich gemacht. Danach wurde Präsident Jovenel Moïse in der Nacht seines Todes von seinen Sicherheitsleuten im Stich gelassen und so faktisch den gedungenen Mördern ausgeliefert.

Von der internationalen Gemeinschaft toleriert

Der Bericht schildert dramatische Szenen, nach denen Moïse mehrere Mitglieder seines Kabinetts anrief und um schnelle Hilfe bat. Doch nichts geschah. Der Bericht weist durch Zeugenaussagen nach, dass es besagte Telefonanrufe zwischen einem Regierungsmitglied und einem der Hauptverdächtigen tatsächlich gegeben habe.

Trotzdem, so Pierre Esperance, Direktor des Menschenrechtsnetzwerkes, trete niemand der Verantwortlichen zurück. Auch die „internationale Gemeinschaft“ toleriere eine Regierung, die Mitglieder habe, die offenkundig in das Attentat verwickelt seien.

Esperance kritisiert, dass die Regierungspartei PHTK nach wie vor an der Macht ist: „Über Jahre hat diese Partei unsere demokratischen Institutionen abgebaut und politische Gegner ermorden lassen. Trotzdem hält die Biden-Regierung sie weiterhin für die richtige Gruppierung, um Haiti zu ‚stabilisieren‘.“ Dieser Stabilisierungskurs, so Esperance, habe zu nichts weiter als zu einer „Gangsterisierung von Haiti“ geführt.

Der haitianische Politikwissenschaftler Robert Fatton, der an der Universität von Virginia unterrichtet, vermutet laut Miami Herald, dass es sich bei den jüngsten Ereignissen um einen Machtkampf zwischen dem Ministerpräsidenten Ariel Henry und den Anhängern des ermordeten Präsidenten innerhalb der PHTK handle.

Wenn Henry keine Lösung finde, stehe seine Regierung vor dem Sturz, so Fatton. Der Politikwissenschaftler hatte gleich nach der Ermordung von Moïse erklärt, dass sich die politische Situation weiter verschlimmern werde, denn es gäbe „viele, die Machtansprüche hegen“.

Dass mit diesen Ereignissen die Idee einer Stabilisierung durch die Eliten an ihr Ende kommt, ist offenkundig. Schlägt nun die Stunde der Opposition, die weitestgehend von der haitianischen Zivilgesellschaft im breitesten Sinne getragen wird?

Für einen Staat, der dem Allgemeinwohl dient

Am 30. August wurde eine Übereinkunft der „Bürgerkonferenz für eine haitianische Lösung der Krise“ veröffentlicht. Dieser Übereinkunft ging ein langer Diskussionsprozess voraus unter über 300 Organisationen, Verbänden, evangelischen und katholischen Kirchen und Parteien, die nicht der Regierung angehören.

Die Übereinkunft will nicht weniger als eine Neugründung des „Staates, der dem Allgemeinwohl dienen soll“. Schon im Eingangsstatement heißt es: „Seit zwei Jahrhunderten leistet das haitianische Volk Widerstand gegen einen antinationalen Staat, der faktisch unter der Aufsicht verschiedener internationaler Mächte eingerichtet wurde.“ Jetzt aber sei die Zeit für einen „Bruch“ gekommen.

Das Abkommen legt einen Zeitplan fest, in dem eine Übergangsregierung aus angesehenen und glaubwürdigen Persönlichkeiten dafür Sorge tragen soll, die Sicherheit gegen die Gangs wiederherzustellen und eine Wahlrechtsreform durchzuführen, die für allgemein anerkannte Wahlen und demzufolge legitimierte Politiker sorgen soll.

Seit dem Erdbeben 2010 gelang es nicht, eine Wahlbeteiligung über 25 Prozent zu erreichen. Die Präsidenten Martelly und Moïse, beide Mitglieder der sich gerade zerlegenden Regierungspartei PHTK, hatten nicht einmal 15 Prozent des Wahlvolkes hinter sich.

Dazu kamen die Wahlfälschungen, die auf internationalen Druck zumindest bei der Wahl Martellys 2011 nachweisbar stattgefunden haben.

Mit der Bürgerkonferenz liegt also der Vorschlag eines au­tochthonen haitianischen Weges vor. Ein Wagnis, das aber angesichts aller gescheiterten Stabilisierungsbemühungen der USA und ihrer Verbündeten, die wesentlich von dem Interesse der Flucht- und Arbeitskräftekontrolle getragen sind, ohne Alternative zu sein scheint.

Allerdings: ohne die Unterstützung der USA und der anderen Mitglieder der Core Group droht auch dieser Vorschlag wieder im Sande zu verlaufen.

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