Intensiv wie im Club

In der Gruft des fossilen Kapitalismus: Die Ausstellung „Metabolic Rift“ verwandelt das Festival Berlin Atonal erstmals in ein künstlerisches Totalerlebnis

Tino Sehgals tanzende Hand. Installationsansicht von „Metabolic Rift“ im Kraftwerk Foto: Frankie Casillo

Von Sophie Jung

Hier geht es in die Katakomben. Knochen, Dunkelheit, Geister – vieles ist bei der Ausstellung „Metabolic Rift“ wie in den unterirdischen Gewölben, die in Paris und Rom die Gebeine der Geschichte beherbergen. Nur hier, in dem stillgelegten Heizkraftwerk, dessen mächtige Turbinen früher mit Schweröl und Erdgas Wärme für Ostberlin produzierten, geht es in die Katakomben der fossilen Energie. Eigentlich noch etwas weiter: in die Gruft des fossilen Kapitalismus. Denn hat man sich einmal durch die finsteren Gänge des seit der Pandemie unbelebten Tresor-Clubs bewegt, begrüßt von spukhaften wie meditativen Gesängen der Soundkünstlerin Pan Daijing, dann steht man irgendwann vor einem riesigen Skelett. Es könnte einem vorzeitlichen Giganten gehören. Allerdings, so erkennt man langsam im düsteren, von hintergründigen Videoprojektionen nur so flimmernden Licht, liegt auf dem kühlen Betonboden ein Gerippe aus Metall. Künstlerin Giulia Cenci ließ Teile von Autos, Maschinen, Fahrrädern zu der skelettartigen Form zusammenschweißen. Und spätestens an dieser Ausgrabungsstätte von Cencis jetztzeitigem Urwesen weiß man nicht mehr, ob die beiden Kuratorinnen Harry Glass und Laurens von Oswald uns mit „Metabolic Rift“ an einen spekulativen Ort schicken, an dem der fossile Kapitalismus noch in vollem Gange ist, zu seinem Zwecke noch Erden, Menschen und Landschaften ausgebeutet werden, oder ob wir uns bereits in einer dystopischen Zukunft befinden, in der die Artefakte unserer CO2-emittierenden Industrie schon lange zu archäologischen Fundstücken geworden sind.

Und in dieser zeitlichen Unklarheit bleibt die Ausstellung. Beziehungsweise: Auch wenn hier vornehmlich bildende Kunst zu sehen ist, und zwar in einer schon Biennale-ähnlichen globalen Zusammenstellung mit bekannten Berliner Namen – darunter Sung Tieu, Nina Canell, Cyprien Gaillard oder Tino Sehgal – und mit internationalen, aber hier weniger zu sehenden Größen – unter anderem der kongolesische Bildhauer Rigobert Nimi oder die schon in den 1960er Jahren mit kinetischen Gedichten bekannt gewordene US-Amerikanerin Liliane Lijn –, ist „Metabolic Rift“ ganz hybrid in der Darstellungsform.

Es ist ein dunkler, immersiver Kunsttrip. In der körperlichen und sinnlichen Intensität eines Cluberlebnisses durchwandert man hier einen Parcours mit finster beschallten Räumen, deren Video- und Lichtprojektionen in einer übergreifenden Choreografie an- und wieder ausgehen. Wie in den experimentellen Theaterstücken der Regisseurin Susanne Kennedy wird man hier direkt hineingezogen in die Szenerie, wird zur Mit­be­woh­ne­r:in der dystopischen Welt, die Harry Glass und Laurens von Oswald mit mehr als 20 ortsspezifischen Kunstwerken in den krassen Räumlichkeiten des Kraftwerks aufmachen. Hat man einmal die unterirdischen Gänge hinter sich gelassen, so verliert man sich geradezu in der kathedralen Betonhalle, wo Rigobert Nimis futuristisches Stadtmodell oder Ana Alensos schamanenartig um sich kreisende Installation aus Haarzöpfen und Zapfsäulen nur schummrige Lichtkojen im weiten Dunkel bilden. Wenn dann hoch unter der Decke plötzlich Narash Assiris LED-Skulptur aufleuchtet und wie bei einer Lichtwerbung Codes aus Teheran und Los Angeles in bunten Lettern schwach auf den Beton wirft, dann ist man vollends im nieselverregneten Stadtmoloch des postapokalyptischen Filmklassikers „Blade Runner“ angekommen.

Der Titel dieser Ausstellung, die das eigentliche Festival Berlin Atonal für Klangkunst erstmals in ein künstlerisches Totalerlebnis umwandelt, sagt bereits, dass hier ein Ort nahe einer ökologischen Apokalypse aufgemacht wird. „Metabolic Rift“ klingt vielleicht nach Computerspiel, ist aber ein Begriff aus dem US-amerikanischen Marxismus. Er fasst die frühe Analyse einer ökologischen Katastrophe von Karl Marx zusammen, die dieser schon Mitte des 19. Jahrhunderts angesichts der kapitalistischen Überreizung landwirtschaftlicher Produktion, unter anderem mithilfe fossiler Düngemittel voraussah. Eine feine Textarbeit von Ilya Kaminsky oder die trügerisch lieblichen Videoszenen aus der französischer Landwirtschaft von Rose Lowder lenken die Aufmerksamkeit auf dieses theoretische Motiv der Ausstellung.

In dem kuratorischen Setting einer dunklen, marxistischen Öko-Prophetie schimmern die Beiträge von Tino Sehgal und Cyprien Gaillard geradezu wie zwei positive Lichtpunkte hervor. Sehgals graziös tänzelnde Hand im Treppenhaus ist überraschend präsent und tatsächlich. Und die gigantisch vor einem sich aufbäumende Luftfigur von Cyprien Gaillard, die angetrieben von Industriegebläse zu einem Dub-Track von Hieroglyphic Being eine derart elegant rhythmische Choreografie vorführt, dass man von ihr zum Tanz aufgefordert werden möchte, macht richtig glücklich. Trotzdem: Kommt man nach zwei Stunden aus dem Kraftwerk wieder heraus, wundert man sich, dass es diese Welt mit Sonnenlicht, Pflanzen und Menschen überhaupt noch gibt.

Bis 30. Oktober, Kraftwerk Berlin, weitere Informationen auch zum Konzertprogramm unter the-metabolic-rift.com