Das Leben der wilden Flora

„The Rewilding Years“: Das Climate Care Festival bietet bis zum Wochenende Lesungen, Workshops und Performances am alten Rückhaltebecken hinter dem Flughafen Tempelhof

Das Nasse geht über ins Trockene: Das Gelände der „Floating university“ Foto: Lena Giovanazzi

Von Katharina Granzin

Ein ganz leichter Geruch von natürlicher Zersetzung liegt in der Luft, ein Hauch von Blumenvase, in der das Wasser lange nicht gewechselt wurde. Im Rückhaltebecken zwischen Columbiadamm und Lilienthalstraße steht das Wasser etwas mehr als knöcheltief. Es wird gesäumt von Schilfböschungen, vor denen das Nasse derzeit schon ins Trockene übergeht. Ungeachtet des üppigen Regens der letzten Wochen ist deutlich zu sehen, dass es hier schon einmal mehr Teich gegeben hat. Derzeit ließe sich fast überall trockenen Fußes neben den Stegen einhergehen, die die verschiedenen holzgezimmerten Plattformen der „Floating University“ verbinden.

Das fluide Projekt, aus einer Initiative von ArchitektInnen und KünstlerInnen verschiedener Hochschulen entstanden, ist seit drei Jahren auf dem Gelände aktiv, das innerhalb einer Kleingartenanlage liegt und normalerweise nicht für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich ist. Dicht gesäumt von Bäumen, die sich um das Wasserreservoir herum angesiedelt haben, ist der flache Tümpel eine der wenigen versteckten „wilden“ Oasen, die es in Berlin noch gibt.

Derzeit bietet sich eine gute Gelegenheit, das Gelände in Augenschein zu nehmen, denn bis zum kommenden Sonntag findet dort das Climate Care Festival statt, das bei freiem Eintritt Lesungen, Workshops, Performances und Filmvorführungen rund um das weitgefasste Themenfeld „The Rewilding Years“ bietet. Es geht, grob gefasst, um das Verhältnis von Zivilisation und Wildnis, von Mensch und Natur.

Am vergangenen Samstagnachmittag steht eine Lesung mit der Kulturgeografin Sandra Jasper auf dem Programm, die derzeit an der HU Berlin lehrt. Jasper hat mit ihrem britischen Kollegen Matthew Gandy im vergangenen Jahr ein Buch über „The Botanical City“ veröffentlicht. Ein Essay der beiden zum selben Thema ist im dicken Festivalreader veröffentlicht und Gegenstand der Lesung, die im demokratischen „Wir lesen uns gegenseitig was vor“-Format abgehalten wird: Der Reihe nach werden Absätze selbst gewählter Länge verlesen; wenn eine Pause entsteht, macht die oder der Nächste weiter. Das schafft ein selbstverständliches Gruppengefühl, ist im Prinzip ziemlich schön und vor allem aus linguistischer Sicht hochinteressant. Anderseits fördert es nicht wirklich das Textverständnis, wenn es gilt, sich bei jedem SprecherInnenwechsel auf einen neuen Akzent, neuen Leserhythmus, neue Textstolperer einzustellen.

Für die meisten hier, obwohl alle es wie selbstverständlich fließend zu sprechen scheinen, ist Englisch hörbar nicht die Muttersprache. Doch den Akzenten nach ist Deutsch es für sicherlich ebenso viele auch nicht, sodass Englisch als lingua franca schon in Ordnung geht. Nichtsdestotrotz geht über all diesen Eindrücken der Großteil des Textinhalts an der Berichterstatterin vorbei.

Eine Aha-Erkenntnis immerhin bleibt: Der in Berlin überall aus dem Boden sprießende Götterbaum, der vor allem in den Nachkriegsjahren immens erfolgreich damit war, die zerstörte Stadt neu zu begrünen, heißt auf Englisch „ghetto palm“! Sind etwa die deutschen Nachkriegsbotaniker, des Englischen nicht wirklich mächtig, bei der Übersetzung vor allem der reinen Lautlichkeit des Begriffs gefolgt?

Was die Verdienste der Nachkriegsbotaniker betrifft, so ist auch in dieser Hinsicht Sandra Jaspers Vortrag über „Rewilding Berlin: from urban biotopes towards the multispecies city“, der in den schon kühleren Abendstunden stattfindet – der Geruch nach Blumenvase scheint mit der sinkenden Sonne verschwunden –, weitaus erhellender als das Gemeinschaftslesen. Jaspers forscht über urbane Brachen und kann sich bei ihrem historischen Abriss auf intensive und im wahrsten Wortsinne flächendeckende Feldforschung stützen. Da West-Berlin langsamer wieder aufgebaut wurde als vergleichbar zerstörte städtische Flächen in Westdeutschland, so ihr Ausgangspunkt, konnten sich in der Westberliner Insellage botanisch hochinteressante Brachen entwickeln, auf denen sich viele bislang in der Region unentdeckte Arten spontan ansiedelten. In den 70er Jahren wurde an der TU ein Forschungsbereich für urbane Ökologie eingerichtet, um die Stadt botanisch zu kartographieren. Gegen Ende der 80er Jahre war praktisch jeder Winkel von Westberlin – Jasper zeigt Karten als Beweismaterial für dieses Leuchtturmprojekt – erfasst. Die Gegenwart, schließt sie, sei natürlich deprimierend angesichts der Geschwindigkeit, mit der die letzten verbliebenen Brachen verschwinden.

Zum Abschluss unternehme ich, auch um nach dem langen Sitzen wieder warm zu werden, eine Gummistiefeltour durch den Tümpel, registriere die Insektenlarven im Wasser und staune bei der genauen Betrachtung des Schilfgürtels. Das Becken ist nämlich mit einer dicken Schicht aus Zement oder Asphalt versehen, um das Wasser am Versickern zu hindern. Doch das scheint die so fragil wirkenden Schilfhalme nicht im Geringsten zu stören: Sie wachsen einfach durch die Versiegelung hindurch.

Climate Care Festival: „The Rewilding Years“, Lilienthalstr. 32, geöffnet bis zum 12. 9., täglich von 14 bis 24 Uhr