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Vom ICE direkt zur Kunst

Im Verein ist Kunst am schönsten (9): Zu Recht zählen die Kunstvereine seit 2021 zum immateriellen Weltkulturerbe. Ihre Erkundungs- und Vermittlungsarbeit macht Gegenwartskunst für jeden erfahrbar – noch bevor sie im Museum einstaubt. Und jeder hat seine ganz eigene Geschichte: Die taz erkundet ihren Beitrag zum norddeutschen Kulturleben in Porträts. Diesmal: Harburger Bahnhof

Früher war hier der prächtige Wartesaal für die 1. Klasse, heute wird Gegenwartskunst präsentiert. Direkt unter den Fenstern: die Bahngleise Foto: Jens Franke

Von Hajo Schiff

Es ist nur ein Buchstabe Differenz. Aber Harburg sieht sich in vielem nicht wirklich als Teil von Hamburg. Und so hat die noch bis 1937 selbstständige, teils sogar fürstliche und mit der Siedlung auf der nördlichen Elbseite vielfach, aber letztlich vergeblich konkurrierende Stadt mit dem „Helms-Museum“ nicht nur ein eigenes Stadtmuseum und in der ehemaligen Phoenix-Gummifabrik mit der Sammlung Falckenberg die wichtigste Dependance der Deichtorhallen. Sondern auch einen eigenen Kunstverein – den einzigen überhaupt mit eigenem direkten ICE-Anschluss.

Denn die Adresse „Hannoversche Straße 85, im Bahnhof über Gleis 3 & 4“ ist keine lustige nostalgisch-artifizielle Reminiszenz an stillgelegte Bahnherrlichkeit, sondern tatsächlich genau der Ort des ehemaligen Wartesaals 1. Klasse im aktuell zum aktiven DB-Smart-City-Bahnhof ausgebauten Harburger Klinkergebäude von 1897: Die etwa 300 Quadratmeter unter der dunkelhölzernen historistischen Renaissance-Kassettendecke sind zum bestens erreichbaren Kunstort geworden.

Doch gerade diese besondere Lage mitten im dynamischen Verkehrsalltag zeigt auch mehr als sonst die weitgehende Differenz der Lebenswelten zwischen einem immer etwas abgehobenen Kunstraum und den genervt-frustriert zur Arbeit am Fließband Fahrenden auf den Bahnsteigen.

Die Lage mitten im Verkehrsalltag zeigt mehr als sonst die Differenz der Lebenswelten zwischen einem immer etwas abgehobenen Kunstraum und den zur Arbeit Fahrenden auf den Bahnsteigen

Um diese Welten wenigstens etwas zu verbinden, bespielt der Kunstverein seit Ende 2019 auch vier Vitrinen im Bahnhof. Zurzeit befragt die an der Hochschule für bildende Künste und der dortigen Galerie erprobte Gruppe „Cake&Cash“ in einer fünfteiligen Serie im direkten Kontakt mit den Pendlern das schöne Schlagwort von der „Selbstverwirklichung“ durch Arbeit; das ist, in der Kunst stets behauptet, im Alltag als neoliberales Ideal ja einigermaßen fragwürdig. Jeder Mensch ein Künstler, aber auch jeder Künstler ein Mensch: Die Bar im Ausstellungsraum gestaltet die Gruppe auch.

Angefangen hat im Harburger Bahnhof alles 1999. Gegen die damalige kunsttheoretische Stimmung, die Malerei sei nun endgültig tot, wollten die ortsansässigen Künstler Udo Dettmann und René Havekost eben dieser alten und wohl doch unsterblichen Ausdrucksform einen guten Platz bieten.

Nach auch international beachteten Ausstellungen wie der des Documenta-erprobten Schweizer fotorealistischen Malers Franz Gertsch entwickelte sich der neue Kunstverein – durchaus mit internen Kämpfen – dann aber zu einem eher der experimentellen Kunst gewidmeten Ort. Die Kuratoren Wilhelm Figger, Nina Möntmann, Mathias Güntner und Ulla Lohmann widmeten sich medienübergreifend der Gegenwartskunst, ja präsentierten die frische Hamburger Off-Szene der „Nullerjahre“ weitgehender als alle anderen in der Stadt.

Nah dran der Gegenwartskunst: Der Performer Adam Christensen hat für „Death by Mystery“ seine Familiengeschichte während der Coronapandemie theatralisch erforscht Foto: Filmstill: Adam Christensen

Schritt für Schritt wurde der Harburger Kunstverein – oft in Referenz auf die (Hamburger!) Hochschule für bildende Künste – zu einer Brutstätte junger Künstlerinnen und Künstler und auch in schneller Folge zum Sprungbrett kreativer Kuratorinnen und Kuratoren in größere Institutionen – darunter Britta Peters, Rebekka Seubert und Tim Voss.

Im dem zweijährigen Ausstellungszyklus „Reihe:Ordnung“ thematisierte beispielsweise Tim Voss ab 2007 den Beitrag zeitgenössischer Kunst zu den Themen Arbeit, Liebe, Geld, Sex, Macht, Freiheit und Zukunft. Solche immer schlüssigere Hinwendung zu strikt aktuellen, sozialen Fragestellungen sowie die eigenen Publikationen und die Erweiterungen zu auch internationalen, komplexen Installationen, Performances und eigenen Video- und Soundproduktionen brachten dem Kunstverein unter der Ägide von Anna Sabrina Schmid dann 2016 den vom Bundesverband der Kunstvereine jährlich vergebenen ADKV-Art-Cologne-Preis ein.

Den somit bundesweit „geadelten“ und erfreulicherweise nicht nur von der Kulturbehörde, sondern unter anderem auch von der Hamburger Liebelt-Stiftung geförderten Verein leitet zurzeit Tobias Peper. Nach Arbeit an so bedeutenden Häusern wie dem Museum Ludwig in Köln, dem Migros-Museum für Gegenwartskunst in Zürich sowie fünf Jahren im älteren Hamburger Kunstverein ist ihm in Harburg die Öffnung in das dortige soziale Umfeld besonders wichtig.

Direkter Kontakt mit Pendlerinnen und Pendlern: Die derzeitige Vitrinenausstellung der Gruppe Cake&Cash stellt Fragen zum Schlagwort „Selbstverwirklichung“ Foto: Fred Dott

In dem südlichen Stadtteil nämlich ist es schwieriger als anderswo, die drängenden Fragen zu Migration, Globalisierungseffekten und Stadtplanung zu ignorieren. So beteiligt sich der Verein auch an „Intro“, dem „Stipendienprogramm für geflüchtete Kunstschaffende“, einer Projektförderung der Hamburger Kulturbehörde: Der iranische Film-Theater- und Performance-Künstler Babak Radmehr gestaltet dort ein offenes Workshop-Programm für alle im Stadtteil.

Die kommende, erstmals von Tobias Peper allein verantwortete Ausstellung „Küss mich, bevor Du gehst“ präsentiert Videos und Aktionen von Adam Christensen. Der in London lebende Däne ist ein queerer multiaktiver Performer, weniger eine Drag-Queen als ein Drag-Prince. In strikter Corona-Isolation entstanden in seiner Londoner WG und in dem jahrzehntelang nicht mehr betretenen Haus der Mutter in Dänemark intim-theatralische Erforschungen individueller Familiengeschichten und aufwendig verdinglichter Erinnerung: Filme einer eigenen, aber auch verallgemeinerbaren Welt psychosozialer Beziehungen. Dabei sind die ins traumhaft-traumatische ausgreifenden, von der eigenen Akkordeonmusik begleiteten Erzählungen voller Sex, Glamour, Mord und unerwarteten Wendungen.

Vitrinenausstellung „Grind&Shine Inc. by Cake&Cash presents Francis Kussatz“: bis 3. Oktober. Küss mich, bevor Du gehst: bis 14. November; www.kvhb.de

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