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ausgehen und rumstehenJan JoswigDie Erfindung Kreuzbergs im Kunstquartier Bethanien

Was ist die Geburt einer Nation gegen die Geburt eines Kiezes? Eine Nation gründet auf Kanonen, ein Kiez auf Korkenziehern. Rotwein statt Blut. „Europa“ heißt vervollständigt „Festung Europa“. Dagegen hilft nur das globale Rhizom aus dörflichen Innenstadtbezirken voller Weltbürger – mit Wegbier. (Erst eine Handvoll Zeilen und schon Wein und Bier … Da werde ich zur Klimax mindestens Gin auffahren müssen.)

Gerade wird den geistigen Bauherren des Kiezes aller Kieze gedacht: den Malerpoeten von Kreuzberg (Montmartre in Paris war nur ein PR-Coup). Im Kunstquartier Bethanien läuft die Ausstellung „Die Erfindung Kreuzbergs“ zu Kurt Mühlenhaupt und seinem Umfeld in den 60er- und 70er-Jahren. Gleich wenn man reinkommt hängt dort der „Bilder Kalender“ von 1967. Die Werkstatt Rixdorfer Drucke hat für jeden Monat einen Text der Katerpoesie von Paul Scheerbart aus dem frühen 20. Jahrhundert illustriert. Die Proto-Spaßguerilla trötet mit dem Proto-Dadaisten ins Horn: „Murx den Europäer! Murx ihn, murx ihn, murx ihn, murx ihn ab!“

Es gibt eine Zeit, dumme Witze zu reißen, und eine Zeit, fromme Sprüche zu klopfen. Anfang des 20. Jahrhunderts und Ende der 60er-Jahre hatte man Sinn für dumme Witze. Auch die Punks der 70er setzten auf diesen Weg zum Erkenntnisgewinn. Die Ökos der 80er hingegen pilgerten auf dem Pfad der frommen Sprüche (was Jörg Schröder vom März Verlag, der poltrige Chronist der westdeutschen 80er, als „dumpfen Muff“ abwatschte). In unserer frommen Achtsamkeits-Epoche wirken Paul Scheerbart, Kurt Mühlenhaupt und Jörg Schröder wie barocke Außerirdische, die sich zu sehr gehenlassen, wie Promenadenmischungen zwischen shampoonierten Podencos.

Am Urbanhafen sonnt sich eine ausgesetzte Schildkröte auf einem Treibast. Ihre Wangen leuchten im gleichen Rot wie mein T-Shirt. Ich hatte es schon aussortiert, der Farbton hebt ungünstig den Rotstich in meinem Teint hervor, aber ich feiere den Spruch über der Brust: „Car free city is care free city“. Kein Schwan interessiert sich für die Schildkröte, keine Ente und kein Blesshuhn. Auch eine Form von Gesellschaftsvertrag.

In der Romantik saßen die Eremiten auf Pfählen. Heute verkriechen sie sich in die Bücher-zum-Mitnehmen-Häuschen. In dem am Südstern finde ich Gabriele Tergits „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ neben Jane Bowles „Zwei sehr ernsthafte Damen“. Ist das etwa die vorgezogene Belohnung für diesen Text? Von hinten rammt mich Fanny mit ihrem Einkaufswagen und sprüht durch ihre Zahnlücke: „He, olle Schildkröte, lange nicht gesehen. Nimm mal einen Schluck von meinem Gin, dann wachsen dir vielleicht ein paar Haare auf’m Oberstübchen nach.“ Dann wird sie wehmütig: „In den 70ern war Kreuzberg noch richtiges Apachenland.“ Und wieder kämpferischer: „Da trauten sich die Touristen nicht aus ihren Bussen raus!“ Sie klopft ihre Maultrommel aus: „Weißt du noch, die wilden Zeiten: Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment!“ „Nee, das muss heißen: Wer zweimal mit dem Gleichen pennt, … Genderdiskursmäßig steckst du wohl im Mustopf?“ „Disko statt Diskurs! Was soll ich dir vorsingen? Nina Hagenschuss oder Herbert Gröhlemeyer?“ Wir ruckeln uns auf der Bank am Bücherhäuschen zurecht und schmettern: „Murx den Europäer! Murx ihn, murx ihn, murx ihn, murx ihn ab!“ Von der Rückseite des Häuschens zischt jemand, von dem wir nur die Veja-Sneaker sehen: „Keinen Aufruf zur Gewalt, bitte, oder wenn, dann nur nach vorheriger Trigger-Warnung!“ Die Erfindung Kreuzbergs läuft immer noch auf Hochtouren.

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