Geister hinterdem Gartenzaun

In seinem zweiten Roman „Kleine Paläste“ erzählt der Hamburger Andreas Moster so eindringlich wie wunderbar von einer Nachbarschaftskatastrophe. Die lässt sich lange verdrängen – aber nicht ewig

„Dieses ständige Beäugen und aneinander Messen“:Hat man sich allzu gut im Blick, steht und fällt das eigene Glück und Unglück bald mit dem, was man bei den Nachbarn sieht Foto: Marius Becker/dpa

Von Frank Keil

Es kann gut sein, dass man nach der Lektüre erst mal für einige Zeit auf Alkohol verzichtet. Dass man die offenstehende Hausbar mit einem Tuch abdeckt, dass man sich Alkoholfreies bestellt, wenn man unterwegs ist; ja: dass man mit einem gewissen Misstrauen Leute betrachtet, die sich gut gelaunt einen hinter die Binde kippen und dabei scheinbar immer lustiger werden – Ende offen.

Nicht, dass Andreas Moster sein zweites Buch „Kleine Paläste“ ausdrücklich gegen den Alkohol geschrieben hätte. Aber: „Mein Roman ist ein Roman über eine Feier“, sagt er, „und über einen Kontrollverlust.“ Wir sitzen auf einer Bank im Schatten einer wuchtigen Backsteinkirche, ein zottelig-zappeliger Hund wälzt sich im Gras, ein Mann versucht, seine Drohne in den Griff zu kriegen, das leise ab- und anschwellende Surren ihrer Rotoren passt wunderbar zu dem angenehm warmen Wind. Alles lädt ein zum Verharren im Moment – so ganz anders als in der Welt von „Kleine Paläste“, in der Stillstand und Schweigen schwer auf den handelnden Figuren lasten, und man beim Umblättern aufgeregt bang auf die neue Seite schaut: Was passiert jetzt?

Andreas Moster: „Kleine Paläste“, Arche Literatur-Verlag, Hamburg/Zürich 2021, 302 Seiten, 22 Euro. Erscheint am 20. 8.

Moster hat auch keinen Pflege-Roman geschrieben. Dabei sind die Pflege und die Momente, in denen man einem Menschen nahekommt, weil man ihm nahekommen muss, zentral für die Handlung. Beschrieben werden sie in einer derartigen Direktheit, dass man von einem Körper-Roman sprechen könnte, sprechen sollte: „Er legt die frische Windel auf die rechte Lehne des Rollstuhls ab, öffnet die gebrauchte Windel und schlägt das Vorderteil nach unten, beugt sich vor.“ Und weiter: „Aus der Nähe ist sein Vater ein durch und durch körperliches Erlebnis.“

Das ist die sozusagen Ausgangssituation: Hanno ist zurück, der Sohn. Unstet ist er durch die Welt gezogen, 32 Jahre lang, war mal hier, mal dort, zuletzt in Hamburg; war nirgends zu Hause und ist nun wieder ins Haus seiner Kindheit und Jugend gezogen, in dem sein Bett all die Jahre lang immer wieder frisch bezogen auf ihn wartete. Er ist zurück, weil seine Mutter gestorben ist und beerdigt werden muss und sich nun jemand um seinen pflegebedürftigen Vater kümmern muss. Und dann ist da noch Susanne.

Von Kindheitsbeinen an, wie man so sagt, kennen sie und Hanno sich. Susanne ist geblieben, auch nach jenem Gartenfest im Sommer 1986, als ihre Susannes, Sylvia, der Dorfwelt, Nachbarn und Freunden so sehr beweisen wollte, wie gut es ihnen geht und dass sie es geschafft haben: Das Haus hatte sie umbauen lassen, monatelang, vom Dachfirst bis zum Keller, alles Ehemalige musste raus, nur die tragenden Wände blieben stehen. Weiß wurde zur vorherrschenden Farbe, dazu Terrakottafliesen, alles neu, alles perfekt, die Einladungskarten zum Fest auf Büttenpapier gedruckt.

Sie sind unter ihnen, schauen ihnen zu, die Toten, die Eltern von einst. Nichts ist da mit: Der Tod versöhnt am Ende alles und alle

Dann brach alles auseinander. War, so formuliert es der Verlag, „die heile Welt für immer gestört“, die Familien distanzierten sich voneinander. Hanno ging weg, und Susanne bewohnt bis heute das Zimmer mit Aussicht. Sie hat ein Fernglas und weiß genau, was nebenan geschehen ist all die Jahre. Sie weiß auch, was jetzt dort geschieht und was nicht; etwa zwischen Hanno und seinem Vater, der morgens seinen Schnaps braucht gegen das Zittern und dann noch einen. „Ich wollte zeigen, wie ein Ereignis aus der Vergangenheit das Leben von Menschen beeinflusst“, sagt Moster. „Auch das Leben derer, die gar nicht wissen, dass dieses Ereignis passiert ist.“

Zwei Familien Auge in Auge, damit ist die Hölle eigentlich schon gut ausgebucht. „Das einzige Autobiografische ist das Milieu“, erzählt Moster, selbst verheiratet und zweifacher Vater. Der Wahlhamburger kommt „aus einem kleinen, süddeutschen Ort. Mein Vater war Akademiker, meine Mutter Hausfrau, wir lebten in einer Doppelhaushälfte.“ Also waren seine realen Nachbarn ebenso nahe wie die im Buch. „Das kenne ich, dieses ständige Beäugen und sich aneinander Messen; dieses Gucken: Was macht der, warum macht der das, was hat der?“ Ein Setting, in dem sich das eigene Glück und Unglück an dem bemisst, was man bei den Nachbarn sieht; das kann, muss zu Enttäuschung führen, die ein Leben lang anhalten kann.

„Die Enttäuschung, die darauf beruht, dass man vermeintlich schlechter weggekommen ist als der Nachbar, und die Überlegenheit, die man aufbaut, weil man vermeintlich besser weggekommen ist“, sagt Moster – „das ist etwas, was ich als Jugendlicher erfahren habe.“ Er holt tief Luft: „Meine Eltern haben über den Zaun geguckt, was da so los ist.“ Und er entspannt sich wieder: „Ich wohne mit meiner Familie in einem Haus mit drei Parteien. Wir kennen die anderen kaum, man sagt mal ‚Guten Tag‘, wenn man sich auf der Treppe begegnet, es ist viel distanzierter.“ Den Ort der Handlung von „Kleine Paläste“ hält der Autor dabei für unwesentlich: „Es ist Kleinstadt gegen Großstadt, der Roman könnte auch irgendwo bei Flensburg spielen.“

Literarische Selbst­befragung: Andreas Moster Foto: Teja Sauer

Eher indirekt biografisch zieht sich das Motiv der Pflege durch den Roman. Unter dem distanzierenden Wort „Care-Arbeit“ sollen heute ja mehr denn je die Männer an die Pflege herangeführt werden. In Mosters Fall ist eher eine Art literarischer Selbstbefragung im Spiel. „Mein Vater ist ziemlich plötzlich verstorben, meiner Mutter geht es gut.“ Aber in seinem Freundeskreis sei das schon eine immer mal wieder gestellte Frage: Was passiert mit den – bald – alten Eltern? Und was passiert dann mit den herangewachsenen Kindern? Soll, kann, muss man dann zurückkommen? „Es ist etwas, dass mir Angst macht, ganz klar“, sagt Moster, Jahrgang 1975. „Wie würden in diesem Fall mein Bruder und ich das regeln?“

Mit dieser Situation, mit dem Zwiespalt zwischen eigener Autonomie und der empfundenen Verantwortung für die Eltern wollte er sich also selbst konfrontieren. „Zurückkommen oder nicht, das ist eine Frage, die virulent ist und es ist eine Frage, mit der man sich bald unwohl fühlt.“ Und so stürzte Moster sich schreibend ins Getümmel und bietet uns nun tiefe Einblicke in die Familiensphären von Hanno und Susanne, abwechselnd spielt das Buch 1986 und 2018, bis es am Ende zu einer Art vereinigenden Finales kommt, als die Fassaden fallen.

Buchpremiere (Moderation Isabel Bogdan): Mi, 18. 8., 19.30 Uhr, Hamburg, Literaturhaus, sowie als Stream (Näheres auf www.literaturhaus-hamburg.de)

Es sollen hier die Geister nicht vergessen werden, die gleichfalls durch den wunderbar erdigen, wohl komponierten Roman spuken, auf zuweilen Shakespeare’sche Art. Da rückt Hanno zwischendurch die Möbel gerade, und Susanne beginnt aus ganz eigenen Motiven, sich um seinen Vater zu kümmern: Sie sind unter ihnen, schauen ihnen zu, die Toten, die Eltern von einst. Zerren an sich selbst herum und noch mehr an den anderen – nichts ist da mit: Der Tod versöhnt am Ende alles und alle.

„Hannos Mutter etwa meckert immer noch an ihrem Sohn herum“, sagt Moster. „Meckert, wie er sich anzieht, wie er die Bratkartoffeln falsch brät, weil er mit der Gabel in der Teflonpfanne herumkratzt, aber da kann sie nicht von weg, das wird immer so bleiben.“ Und lächelt, auf der Bank im Schatten der Kirche: „Mit den Geistern ist es übrigens wie mit den Lesern und Leserinnen: Sie wissen Bescheid, sie kennen die Figuren, kennen sie manchmal besser als die sich selbst – aber sie können nicht eingreifen.“