Schales Gefühl der 50er-Jahre

Berufungsprozess gegen Ex-Chef des Weißen Rings

Auch die Staatsanwaltschaft ist eingeknickt: Zu Jahresbeginn hat sie die Berufung gegen den Freispruch des Lübecker Ex-Weißer-Ring-Chefs Detlef H. zurückgezogen, der Frauen sexuell belästigt haben soll. Er war 2019 ohnehin lediglich wegen Exhibitionismus angeklagt, obwohl 29 Frauen berichteten, dass er ihnen in Beratungsgesprächen zu nahe gekommen war. Spiegelund Lübecker Nachrichtenhatten es 2018 öffentlich gemacht.

Geklagt hatten letztlich nur drei Frauen, und vor Gericht kam wegen Verjährung nur diejenige von Dora M., die 2016 von Detlef H. belästigt worden sein soll. Allerdings hatte das Lübecker Landgericht die Klage ans – unbedeutendere – Amtsgericht zurückverwiesen, wohl um die mühsame Beweisaufnahme abzuwälzen und die Bedeutung des Falls herunterzuspielen, wie der Spiegelvermutete. Auch sei der pensionierte Polizeihauptkommissar laut Süddeutscher Zeitunggut vernetzt und wohl von der Politik geschützt worden. Denn Detlef H. sei erst 2018 zurück getreten, nachdem auch eine Polizeimitarbeitern von sexueller Belästigung berichtet hatte.

Doch anstatt die Glaubwürdigkeit des hartnäckig leugnenden Detlef H. zu prüfen, nahmen Lübecks Gerichte in zwei Gutachten die Zeugin ins Visier. Ob die GutachterInnen dabei ausschließlich die Zeugenaussage bewerteten, oder auch die Vorstrafe von Dora M. wegen Betrugs, steht dahin.

Jedenfalls kamen sie zu dem Schluss, „dass die Richtigkeit der Aussage der Hauptbelastungszeugin nicht belegt werden kann“, wie die Staatsanwalt schrieb. Zwar hätten „weitere Zeuginnen ein bedrängendes und grenzüberschreitendes Verhalten des Angeklagten über Jahre hinweg geschildert“. Die Angaben dieser Frauen könnten jedoch eine belastbare Aussage der Hauptbelastungszeugin zu dem Vorwurf nicht ersetzen. Die Staatsanwaltschaft habe die Berufung daher mangels Erfolgsaussichten zurückgezogen. Die Verteidigungsstrategie Detlef H.s, der Dora M. immer wieder „Betrügerin“ nannte, scheint damit aufgegangen.

Nach dem Rückzieher der Staatsanwaltschaft bleibt für die Berufungsverhandlung am 17. August nur die Berufung der Nebenklägerin Dora M. Und beim Publikum das schale Gefühl, sich irgendwo in den 1950er Jahren zu bewegen, als bei Nötigungs- und Vergewaltigungsprozessen stets die Glaubwürdigkeit der Frau angezweifelt wurde. Und schon gar nicht die eines Polizisten und „Opferschützers“. Petra Schellen