Tunesien vorsichtig optimistisch

Noch immer ist nicht klar, wohin Präsident Kais Saied nach seinem Vorstoß gegen Regierung und Parlament das Land zu führen gedenkt. Aber die Unterstützung für ihn bleibt groß, sichtbarer Protest regt sich nicht

Aus Tunis Mirco Keilberth

Eine Woche nach der Entlassung des Regierungschefs von Tunesien durch Präsident Kais Saied und seiner Aussetzung der Parlamentsarbeit für 30 Tage ist die Unterstützung in der Bevölkerung für die Maßnahmen des Staatschefs ungebrochen groß. Das öffentliche Leben hat sich normalisiert, Kundgebungen von Saied-Anhängern wie auch seinen Gegnern wurden abgesagt. Die Strände sind wieder voller Familien, per Präsidialdekret wurde die nächtliche Ausgangssperre von 19 Uhr auf 23 Uhr verlegt.

Nur am Sonntagnachmittag kam es zu einer Demonstration mehrerer Hundert Menschen vor dem abgeriegelten Parlament in Tunis. Sie forderten einen Fahrplan für die kommenden Wochen und eine Volksabstimmung über das künftige politische System Tunesiens. Die Gruppe bezeichnet sich als „Bewegung des 25. Juli“ – der Tag, an dem Saied seine Maßnahmen umsetzte.

Der bekannte Radiomoderator El Mekki bringt die derzeitige Stimmung auf den Punkt: „Ja, es war ein Staatsstreich. Die Lage ist gefährlich und wir müssen wachsam unsere erkämpfte Demokratie schützen. Aber die seit zehn Jahren regierende Koalition von Gaunern, Dieben und Terroristen hat unsere Revolution gestohlen und es nicht besser verdient.“

Nachdem mit der UGTT die größte Gewerkschaft des Landes Saied die Unterstützung zugesagt hatte, schlossen sich auch andere gesellschaftlichen Organisationen an. Der vorsichtige Optimismus liegt auch an dem vorsichtigen Vorgehen von Saied und den ihn umgebenden Generälen. Statt am Wochenende wie erwartetet einen neuen Premierminister vorzustellen, erließ er ein Auslaufverbot von Segelyachten aus tunesischen Häfen, um die Flucht von per Haftbefehl Gesuchten zu verhindern. Die Staatsanwaltschaft kann nämlich nun mit dem Wegfall der Immunität der Abgeordneten seit Langem vorliegende Haftbefehle vollstrecken.

Doch gibt es auch beunruhigerende Entwicklungen. So wurde der Aktivist Yassine Ayari wegen Beleidigung der Armee zu zwei Monaten Haft verurteilt. Menschenrechtsaktivisten sehen das Vorgehen als Beweis für die dringend nötige Reform der Justiz und der Sicherheitsdienste. Diese nimmt jetzt offenbar vor allem Islamisten ins Visier. Polizeibeamte suchten am Samstagnachmittag den Abgeordneten Mohamed Affes zu Hause auf, gegen den wegen der Unterstützung von Terrorverdächtigen ermittelt wird. Der Richter Bechir Akremi wurde für 40 Tage unter Hausarrest gestellt. Dem Ennahda-nahen Akremi wird vorgeworfen, Ermittlungsunterlagen zu den Morden der beiden Aktivisten Chokri Belaid und Mohamed Brahmi im Jahr 2013 versteckt zu haben. Diese Morde hatten das Land an den Rand eines Bürgerkrieges gebracht. Spätestens mit dem Ablauf der von Saied gesetzten 30-Tage-Frist könnte es heute wieder zu Konfrontationen vor dem Parlamentsgebäude kommen.

Viele Unterstützer von Saied werde warten jetzt nervös auf die Vorstellung eines konkreten Aktionsplans durch den Staatschef. „Wenn der Präsident die derzeitig massive Unterstützung für sein radikales Reformprojekt und die versprochenen Antikorruptionsmaßnahmen nicht schnell nutzt, entsteht ein gefährliches Machtvakuum“, sagt ein Teilnehmer eines von der UGTT organisierten Expertentreffens. Seit Freitag entwickeln die Gewerkschafter ein Paket von Reformvorschlägen für Saied.

Der Chef der moderaten Islamistenpartei Ennahda, Rached Ghannouchi, ruft derweil seine Anhänger immer wieder zu friedlichem Widerstand gegen Saied auf. Doch nicht nur das Verbot von Menschenansammlungen von mehr als drei Personen verhindert dies. Der ehemals populärsten Partei Tunesiens fällt es auch immer schwerer, Anhänger zu mobilisieren. Die wegen ihres langjährigen Exils gut vernetzten Ennahda-Lobbyisten versuchen nun die Regierungen in Europa und Washington davon zu überzeugen, die finanzielle Hilfe für Tunesien einzustellen, um Saied unter Druck zu setzen. Doch auch dieser Versuch ist nur mäßig erfolgreich. Nachdem ein Ennahda-Funktionär den USA das Zurückhalten von Covid-Impfdosen für Tunesien empfahl, schlug der Partei eine Welle der Empörung entgegen.