Nobelpreisschweres lebendig gehalten

Mal diskurstauglich gemacht, mal eher aufs Gerippe reduziert: „Der Tod in Venedig – Die Cyborg Version“ und „Sex, Drugs & Budd‘n‘brooks“ bringen Vorlagen von Thomas Mann ziemlich frei auf Hamburger Bühnen

Ping-Pong von Erleben und Verstehen-Wollen: Die Roboterin (Anna Krestel) und Aschenbach (Christian Nisslmüller) in „Der Tod in Venedig – Die Cyborg Version“ Foto: @g2Baraniak

Von Jens Fischer

Er war als Autor formvollendet, gravitätisch-lakonisch der Ton seiner Beschreibung puritanischer Kämpfe mit bürgerlichen Idealen. Obwohl Thomas Mann sich auch dann und wann einmischte in die ganz große Politik: Mit all seinen schlüssigen Spannungsbögen, überfeinerten Stilmitteln und ausgearbeiteten Erzähltechniken, seiner Formulierungskunst und Bildungsbürgerhuberei hinterließ der Lübecker Literaturnobelpreisträger vor allem eleganten Lesestoff.

Im Gegensatz etwa zu früheren Verfilmungen lassen sich Thea­ter­ma­che­r:­in­nen heute nicht so sehr von der makellosen literarischen Ästhetik blenden, übersetzen diese also nicht in edles Bildertheater; sie picken sich Themen heraus. So stürzten sich nun das Hamburger Partykollektiv Queereeoké und die für immersive Aufführungen – vulgo: Mitspieltheater – bekannte österreichische Theatergruppe Nesterval auf Manns „Buddenbrooks“. Und das Kieler Factory Theater experimentiert mit dem „Tod in Venedig“ – in einer „Cyborg-Version“.

Dafür nutzen Regisseurin Gabriele Schelle und Dramaturgin Elena Messner die zum Klischee geronnene Kurzzusammenfassung als eine Art spätes Outing des Autors: Den ältlichen Künstlertyp Aschenbach, Manns tagediebisches Alter Ego, enthusiasmiert während eines Venedig-Trips die Schönheit eines 13-jährigen Knaben. Er pflegt die Obsession aber nur im Geiste: „Seine Seele kostete Unzucht und die Raserei des Untergangs“, wie es im Original heißt. Aschenbach stirbt am Rausch seiner erwachten Leidenschaft – oder wird dafür mit dem Tod bestraft. Zu diesen moralischen Lesarten gesellt sich eine realistische Todesursache: Virusinfektion. Nein, nicht Corona, die Cholera wütet in der Lagunenstadt, was die Bühnenfassung für aktuelle Verweise nutzt.

Der Pädophilie-Aspekt ist nur Ausgangspunkt für das polarisierende eigentliche Sujet: Künstliche Intelligenz. Auf der – bis auf ein paar Sitzmöbel – leeren Bühne spielt Anna Krestel eine Roboterin in Menschengestalt. Sie soll nicht nur Sklavendienste erledigen und als Beziehungs-, gar Liebesobjekt fungieren, sondern auf eine nächste Ebene gehoben werden: Der Dualismus von Organismus und Maschine soll neu synthetisiert werden, ein selbstständig handelnder und fühlender Cyborg entstehen.

Zwei Wissenschaftlerinnen, ein selbst gern in Beziehungsknatsch abdriftendes Paar, laden die Mann’sche Novelle in die Roboterin hoch – in der Hoffnung, dass die Geschichte von erotischer Anziehungskraft und überwölbenden Liebeswallungen die Drähte glühen lässt und den Quellcode so richtig triggert. Zur Visualisierung tritt Christian Nisslmüller auf und gibt den Aschenbach verschwärmt und narzisstisch empfindsam. Die Roboterin wirft ihm anfangs im technoiden Duktus Novellen-O-Töne zu, ergänzt, konterkariert, stellt Fragen – ein prima Ping-Pong von Erleben und Verstehen-Wollen.

Was im Maschinenwesen drin passiert, bleibt trotz eingeblendeter Computersprachbefehle unklar. Anna Krestel aber macht deutlich, dass die Maschine zunehmend menschlich handelt und dem Gegenüber näherkommt. „Sie hat sich verliebt“, frohlocken die Wissenschaftlerinnen – und manövrieren sie zurück ins Stand-by. Licht aus, Licht an. Sie reißt die Augen auf wie ein Horrorfilmmonster, das gerade in den Aggressionsmodus wechselt. Die anfangs utopisch mitgedachte transhumanistische Revolution ist mit diesem Schluss erledigt. Die Aufführung zeigt korrekt: Selbstlernende Algorithmen und neuronale Netze sind gut darin, Verhalten zu imitieren oder Gelerntes fortzuschreiben. Aber Maschinen bleiben Maschinen. Dass den evolutionären Sprung ausgerechnet eine Dosis Mann möglich macht: provokante Spekulation.

Familienfirma will ins Homo-Business

Sex und Geld: „Budd’n’brooks“ im einst angesagten, nun kriselnden Club Foto: Maximilian Probst/Kampnagel

Queereeoké und Nesterval sehen in dem Autor der „Buddenbrooks“ ebenfalls den verklemmt homosexuellen Vertreter verklemmten Bürgertums – und zeigen die meisten Figuren seiner Familienzerfallsgeschichte als schwul, lesbisch oder trans. Nicht im Kontor und gründerzeitlichem Heim spielt nun die Krämerseelen-Seifenoper, sondern in Hinterzimmern des Drogenhandels, von Bordellen und Night-Clubs: „Sex & Drugs & Budd’n’brooks“ ist die Produktion des Kampnagel-Sommerfestivals betitelt. Ideal gewählt ist der Aufführungsort, der Club „Uebel & Gefährlich“ im Bunker auf dem Heiligengeistfeld. Der Laden wird zum „Budd’n’brooks“, und wegen der anhaltenden Veranstaltungsflaute will die Familie, die ihn betreibt, ins Homo-Business wechseln, Stricher-Puffs gründen. Unter der Regie von Martin Finnland und Teresa Löfberg tanzt, trinkt und turtelt das schrill aufgetakelte Ensemble, feiert Queerness und lockt per Augenkontakt in die Nebenräume.

Die Figuren aber schauspielerisch in Hier-und-Heute-Situationen zu transferieren, überzeugend ihre Sehnsucht, Trauer, Nervosität und beherrschte Verzweiflung darzustellen mit frei improvisiertem Text und interagierend mit dem Publikum. Es fehlt an zupackender Moderation und spontaner Inszenierungskunst der Darstellenden.

Noch ein zweiter Aspekt der Vorlage wird ausgebreitet: die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. In ihrem knallhart pekuniären Handlungskosmos gehen die Buddenbrooks zugrunde. Persönliche Glücksvorstellungen und Wünsche sind dem Erfolg des Familienunternehmens untergeordnet, der Wert eines Angehörigen bemisst sich an seinem Nutzen. Wann immer es nicht um Sex geht, dann um Geld. Auch das Publikum wird penetrant zum Kauf von Marillenschnaps-Shots animiert. Die Performance wirkt morbide, aber es flammt immer wieder Partyhunger auf: Das anderthalb Jahre brachliegende Nachtleben wird wider Manns Disziplinierungsstrategien auf die Tanzfläche zurückgeholt.

Während die Cyborggeschichte den „Tod in Venedig“ geschickt für einen aktuellen Diskurs zusammenstreicht und ergänzt, werden die „Buddenbrooks“ nur als Handlungsgerippe auf gegenwärtige Debatten übertragen. Wirklich auf die Vorlagen lassen beide Bearbeitende sich nicht ein. Für Thomas-Mann-Begeisterte sind beide Aufführungen eher nix, Thea­ter­freun­d:in­nen aber erwartet ein reizvoll offener und ein lehrstückhaft geschlossener Ansatz, diese Texte lebendig zu halten.

Der Tod in Venedig – Die Cyborg Version. Weitere Vorstellungen: Fr + Sa, 20. + 21. 8., Hamburg, Sprechwerk

Sex, Drugs & Budd‘n‘brooks: Mi – So, 18. – 22. 8., Hamburg, Uebel & Gefährlich