Die Flucht nach vorn

Amanal Petros, 2012 nach Deutschland gekommen, ist ein Hasardeur auf der Laufstrecke. In Tokio möchte er im Marathon vorn mitmischen. Mit seiner Bestzeit von 2:07:08 könnte das sogar klappen

200 Trainingskilometer pro Woche: Amanal Petros bereitete sich in Kenia auf die Spiele vor Foto: imago/Jan Hübner

Von Jens Uthoff

Es sind noch 17 Tage bis zum olympischen Marathon in Sapporo, als Amanal Petros auf einem Hotelbett in Kenia sitzt, regeneriert und in seine Handykamera blickt. Die morgendlichen 15 Kilometer hat er hinter sich, die 10 Kilometer der nachmittäglichen Trainingseinheit vor sich. Petros hält sich in diesen Tagen Ende Juli im Höhentrainingslager in Iten auf, wo sich die besten Langstreckenläufer der Welt auf ihre Wettkämpfe vorbereiten: Edna Kiplagat, Eliud Kipchoge, Brigid Kosgei, diese Liga. Die kenianische Läuferelite eben, zudem Spitzenathleten aus aller Welt.

In die Weltklasse, in die erste Marathonliga will auch Amanal „Aman“ Petros. Idealerweise bei den Olympischen Spielen, wo er als bester deutscher Läufer am Sonntag über die 42,195 Kilometer antritt. „Den Traum von Olympia habe ich, seit ich 2012 meinen ersten 10-Kilometer-Lauf gewonnen habe. Und auch wenn ich Probleme in der Vorbereitung hatte, gehe ich in jeden Wettkampf, um zu gewinnen. So bin ich einfach.“ Bei einem Trainingsunfall – ebenfalls in Iten – hatte sich Petros im Mai am Sprunggelenk verletzt, musste zwei Wochen pausieren, es folgte das Wiederaufbautraining. Ein Nachteil, zweifellos. Andererseits: Für Überraschungen hat Petros schon so manches Mal gesorgt.

Er kam Anfang 2012 mit 16 Jahren als unbegleiteter Flüchtling nach Deutschland und beantragte hier Asyl, er kam in ein Flüchtlingsheim in Bielefeld. Geboren wurde er in Eritrea, von seinem zweiten Lebensjahr an lebte er mit seiner Mutter und seiner Schwester in Äthiopien in der Nähe von Mek’ele, der Hauptstadt der Krisenregion Tigray; sein Vater sei bereits vor seiner Geburt gestorben, erzählt er. „Es gibt kein sicheres Leben in Tigray, man kann nicht für die Zukunft planen, sich keine Ziele setzen“, sagt er heute, „es hat sich in fünfzig Jahren nicht viel geändert, die Konflikte brechen immer wieder auf. Ein paar Jahre war es etwas ruhiger, jetzt herrscht schon wieder Krieg.“ Seine Mutter und seine Schwester leben noch immer dort, Petros versucht den Kontakt zu halten. Die Lage in Tigray ist derzeit wieder katastrophal, Hilfslieferungen in die Region werden blockiert. Von seinen Verwandten hat Petros seit einer Woche nichts gehört. „Es gibt kein Telefon, keinen Strom, die Menschen haben wenig zu essen“, sagt er.

Vor allem über den Sport fand Petros damals Anschluss in Deutschland. Jenseits der Schulen, die er besuchte – er ging zunächst auf eine handwerkliche Berufsschule, machte dann seinen Realschulabschluss – kannte er kaum Leute. Vom Flüchtlingsheim aus lief er allein seine eigenen Strecken im Teutoburger Wald, bis einem späteren Vereinskollegen vom TSVE 1890 Bielefeld auffiel, was für einen sauberen Laufstil und welches Potenzial dieser junge Mann hatte. Petros trat dem Verein bei – und gewann gleich mehrere 10-Kilometer-Volksläufe in der Umgebung. Auf den 5.000 und 10.000-Meter-Distanzen gelang Petros – der 2015 die deutsche Staatsangehörigkeit annahm – der Sprung in die nationale Elite, er gewann unter anderem zweimal die Deutsche Meisterschaft im 10-Kilometer-Straßenlauf (2017 und 2019).

Doch seine eigentliche Paradedisziplin scheint er im Marathon gefunden zu haben. Seinen ersten Marathon lief er Anfang Dezember 2019 in Valencia in 2:10:28 Stunden und schaffte auf Anhieb die Olympia-Norm. Ein Jahr später lief er an selber Stelle deutschen Rekord. Und was für einen! 2 Stunden, 7 Minuten, 18 Sekunden. Die bisherige Bestmarke von Arne Gabius übertraf er um mehr als eine Minute. Inzwischen war Petros zum TV Wattenscheid gewechselt, seit Langem eine der besten Leichtathletik-Adressen in Deutschland.

Wie dieser Rekord zustande kam, ist so eine Geschichte, die gut zu Aman Petros passt. Zu Beginn des Laufs zeigte ihm seine Uhr ein langsameres Tempo an, als er tatsächlich lief. Zudem hatte er den ihm zugedachten Pacemaker aus den Augen verloren. Also lief er einfach drauflos – schneller, als er dachte. „Der Veranstalter fuhr auf dem Begleitmotorrad neben uns her“, erzählt er, „bei Kilometer sechs fragte ich ihn: ‚Which pace is this?‘. Der antwortete: ‚This is like 2:06 minutes for marathon, three minutes per kilometre.‘ Ich war fast schockiert wegen des schnellen Tempos. Aber ich ging auf Risiko und lief einfach weiter.“ Das Risiko wurde belohnt.

Amanal Petros erzählt all dies recht unaufgeregt, auf dem Screen sieht man ihn in hellrotem Kapuzenpulli, er hat ein schmales Gesicht, lockige Haare, auffällig sind die zwei funkelnden Ohrringe. Um seine Sportart zu promoten, würde einer wie Petros bestens taugen: Auf seiner Instagram-Seite zeigt er sich schon mal an spektakulären Anstiegen, oder er postet Bilder, die ihn beim Slacklining im Park zeigen – eines seiner Hobbys. Oder aber er posiert im eleganten Freizeitlook mit modischem Mantel. Vor seinen Rennen pusht Amanal Petros sich mit Musik, er hört Reggae und Hip-Hop, spielt die Workoutplaylisten der Streaminganbieter ab („Musik ist die beste Motivation“). Einer, der im Fall des Erfolgs abheben würde, ist er eher nicht: Für die Zeit nach Olympia plant er eine Ausbildung zum Physiotherapeuten oder ein Studium.

Mutter und Schwester blieben in der Hauptstadt der Krisenregion Tigray, in Äthiopien

Vor Tokio begleiten ihn aber auch Ungewissheit und Unsicherheit. Zum einen, weil er nicht einschätzen kann, ob er den Trainingsrückstand wettmachen kann (vor seinem Unfall hatte er die Top Ten als Ziel ausgegeben). Aber viel mehr, weil es einen irren bürokratischen Aufwand wegen der Coronaregularien gibt. „Die ganze Sache ist einfach stressig. Wie viele Papiere wir zugeschickt bekommen und ausfüllen müssen, das können Sie sich nicht vorstellen.“ Die ständigen Tests und Messungen würden das Ganze zu einer obskuren Angelegenheit machen, „aber – hey – wir haben uns schon einmal umsonst auf Olympia vorbereitet. Deshalb sind wir froh, dass die Spiele überhaupt stattfinden.“ Und fast ohne Zuschauer, wird das Sekunden oder gar Minuten kosten? „Die Zuschauer und die Stimmung an der Strecke sind eigentlich schon sehr wichtig. Wir sind ja Menschen und keine Maschinen, die einfach immer in konstanter Geschwindigkeit laufen.“ Ob es in Sapporo simulierten Sound an der Strecke geben wird, war bis zuletzt noch unklar. Zuschauer sind jedenfalls nicht erwünscht.

Der große Favorit ist Eliud Kipchoge – einer, mit dem Petros schon einige Male trainiert hat. Kipchoge gewann schon 2016 in Rio de Janeiro Gold, er ist der Weltrekordhalter. Auch Petros’Trainingspartner in Wattenscheid, Hendrik Pfeiffer, hat sich qualifiziert, der dritte deutsche Teilnehmer ist Richard Ringer, der im April in Siena seine Bestzeit auf 2:08:49 Stunden verbessern konnte. Bestzeiten aber sind in Sapporo wohl nicht zu erwarten, denn derzeit rechnet man dort mit hohen Temperaturen an den Wettkampftagen. Dabei war der Marathon extra von Tokio ins mehr als 800 Kilometer nördlichere Sapporo verlegt worden. Ende Juli wurden dort, erstmals seit 21 Jahren, Temperaturen von 35 Grad gemessen.

Amanal Petros sagt, sie hätten dieser Tage wieder die „verrückten Trainingseinheiten“ absolviert, er meint jene mit einem Schnitt von gut 3 Minuten pro Kilometer. Er hat sich wieder gut gefühlt dabei, seine Verletzung spürt er schon länger nicht mehr. Die wöchentlichen 200 Trainingskilometer steckt er gut weg. Es könnte also sein, dass Petros in Sapporo seiner erstaunlichen, ja unwahrscheinlichen Geschichte ein weiteres Kapitel hinzufügt. Sicher ist für ihn nur eins: „Ich werde dafür kämpfen, vom ersten bis zum letzten Kilometer.“