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Das Gesellschafts-Spiel

Doppelkopf, sagen die Nachschlagewerke, ist ein norddeutsches Kartenspiel. Im Wesen modern-diskursiv, hat es auch lyrische Momente und liegt voll im Trend: Als Freizeitvergnügen ist es ausgesprochen preiswert

von Benno Schirrmeister

Uli ist völlig ausgetillt, scheint’s. Und Heini zieht einen Flunsch, und verschränkt die Arme vor der Brust, weil er jetzt mit dem irren Uli zusammen spielen muss. Keine „Sechs“ hat der irre Uli angesagt, einfach so, das ist schon echt heftig, und hat dabei auch noch so verrückt gelacht, der spinnt doch. Fast hätte Heini, der so allmählich auf die 50 zugeht und zornig die Hornbrille hochschiebt, sich durchs doch schon leicht schüttere Haar fährt und zusammensackt, einfach hingeschmissen. Sara starrt zwar gebannt auf ihr Blöckchen und sucht den Fehler, den sie irgendwann gemacht hat, beim Aufschreiben.

Aber die übrigen beiden schauen gebannt auf diese merkwürdige Urszene, die da ausgebrochen ist, ein nie bewältigter Sandkastenkonflikt, so lange kennen sich die beiden nämlich schon. „Och nö, Uli! echt nich“, sagt, während er seine Karte legt, resignativ, aber doch auch ein wenig versöhnlich, der Heini, der eigentlich nicht Heini heißt, genauso wenig wie Uli Uli. Die wirklichen Namen der Doppelkopfpartner bleiben geheim. Sonst fliege ich noch aus der Runde.

Doppelkopf ist ein faszinierendes Spiel. Vielleicht liegt das daran, dass sich im Laufe einer Partie die Charaktere in ihrer unverstelltesten Form zeigen. Vielleicht hat es aber auch mathematische Ursachen. Doch das kann nicht alles sein: Man sitzt ja nicht Abend für Abend stundenlang zusammen, viel länger als ein normaler Kinofilm oder ein durchschnittliches Theaterstück fesseln könnten, und sinnt darüber nach, wie viele Verteil-Varianten 20 Kartenpärchen à vier Spieler ermöglichen.

293.631.119.403.639.732 heißt’s, gut, dass man das jetzt weiß, Das ist in der Tat höllisch viel, imposant, imposant, aber eben doch nur eine Zahl. Wer will, kann’s nachprüfen, der Rechenweg ist nicht ganz einfach, vielleicht findet er Menschen, die sich darüber unterhalten mögen. Hier wird jetzt aber gemischt und verteilt, die blau-weißen Kartenrücken rutschen übern Tisch, Reihenfolge egal, wichtig ist nur, dass jeder gleich viel Karten hat, die mit Neunen spielen, bekommen jeweils zwölf, die ohne Neunen spielen: zehn. Und danach wird erst einmal gejammert: Ach je, ach je, was habe ich denn da wieder für ein Blatt, oder: Mein Gott, mein Gott, was ist denn das!, oder: Nein, nein, nein…! Nicht aber: Was’n verwixtes Kackblatt. Das sagt man beim Skat.

Das Jammern steht nicht in den Regeln. Es gibt kein Pflicht-Jammern. Und natürlich sagt es nichts aus über das tatsächliche Blatt des jammernden Spielers. Aber es ist doch unabdingbare Eröffnung, ein Ritual. Und die bezeichnet die mentale Differenz des Doppelkopf zum bayrischen Schafskopf oder zum Skat: Ein Spiel dient dazu, den Gedanken an Siechtum, Tod und Verdammnis zu verdrängen. Also ist es nur folgerichtig, dass seine Ouvertüre ihn, kaum verschleiert, artikuliert. Dort geschieht das mit urtümlich-südlichen Kraftausdrücken, oder aber mit modern-proletarischen Vulgarismen – saftige Flüche sind der sprachlich direkteste Griff ins Reale, und das Reale ist nun mal der Tod.

Ganz anders jedoch das Doppelkopf. Das ist zurückhaltend. Es greint, es jammert, es leidet halblaut. Man kann das als ein lyrisches Element bezeichnen, besteht doch der Kanon deutschsprachiger Dichtung zu großen Teilen aus Elegien, Sehnsuchtsliedern und Klagegesängen. Und Doppelkopf ist nur im deutschsprachigen Raum bekannt. Doppelkopf ist, sagen die Nachschlagewerke, ein norddeutsches Kartenspiel.

Auf diese norddeutsche Herkunft gibt es tatsächlich noch immer klare Hinweise: Von den 44 Doppelkopf-Spielvereinigungen, die im Doppelkopfverband organisiert sind, haben knapp 30 eine Adresse zwischen Harz und Waterkant. Und der Verband selbst hat seinen Sitz in Braunschweig. Mehr muss man über ihn allerdings nicht wissen. Denn seinen wahren Charme entfaltet Doppelkopf gerade jenseits der Vereinsmeiereien und Clubs, in denen sich immer dieselben halbprofessionellen Spieler nach ein für allemal festgelegten Regeln in Konkurrenz begeben, in Ligen und Pokalwettbewerben gegeneinander antreten. Die jammern natürlich nicht. Und möglicherweise geht’s ihnen sogar noch darum, Geld zu gewinnen.

Der neue Freizeit-Trend heißt aber: Möglichst billig. Noch liegen keine Studien darüber vor, die belegen, dass Kartenspielen der aktuelle Sommer-Hit ist. Aber die Parameter, die der Hamburger Freizeitwissenschaftler Horst W. Opaschowski in seinen jüngsten Untersuchungen erkundet hat, weisen darauf hin: „Die Bundesbürger“, so der Leiter des Instituts für Freizeitforschung, „erwarten vom Leben heute nicht das ganz große Glück“, sondern sehnen sich nach den „kleinen Glücksmomenten in einer entspannten, störungsfreien Atmosphäre.“ Das war vor Jahresfrist. Mittlerweile haben die Hamburger Forscher noch dazu heraus gefunden, dass die Deutschen enger zusammen rücken würden. Die Nachbarn werden wieder relevante Bezugspersonen. Karibik-Urlaub? Wer braucht das denn! Vielleicht kommen die Meyers ja mal schnell für ein Stündchen Kartenkloppen rüber. Und bringen eine Flasche Wein mit. Oder Bier. Oder Knabberzeug.

Ein kleines Glücksmoment: Heini und Uli haben nicht nur keine „Sechs“, sondern sogar keine „Drei“ gespielt, zwei lumpige Stiche haben die anderen ergattert, nix als Bilder, die bringen keine Punkte. Heini greift zu den Chips und nimmt einen Schluck Bier. „’Tschuldige“, sagt er noch einmal ganz kleinlaut zu Uli, „dass ich dich so angeraunzt habe.“ Und die Reue ist echt, und Heini klopft Uli auf die Schultern, „Respekt“, sagt er jetzt noch, „Re- spekt“. Das kommt selten vor, weil Ulis verqueren Ansagen wirklich berüchtigt sind. Und sein planloses Abwerfen.

Doppelkopf – niemand kennt den Ursprung des Namens. Psychoanalytiker würden möglicherweise auf den Mythos vom Gott Janus verweisen. Dessen doppelköpfige Marmorfigur hielt am Eingang römischer Tempel mit einer Fratze ungebetene Gäste ab, ins Heiligtum hinein aber schickte sie ein verklärtes Lächeln. Ingeniös, aber etymologisch unwahrscheinlich. Und dass sich im Spiel der Mensch offenbart und sein wahres Gesicht zeigt, das ließe sich zwar behaupten. Aber eben genauso gut übers Schafskopfen oder über Skat. Interessant wird die Sache jedoch aus kultursoziologischer Perspektive.

Dazu muss man wissen: Historisch ist das Schafkopfen der erste Schritt weg vom Feudalismus. Bis ins 17. Jahrhundert hinein war Kartenspielen exklusiv den edleren Teilen der Gesellschaft vorbehalten. Dann: der Dreißigjährige Krieg. Keine schöne Sache das, aber die Bauernheere und Landsknecht-Armeen hatten einen Vorteil. Hier war die Position des Einzelnen nicht qua Abstammung, sondern bloß noch durch die Geschlechtszugehörigkeit vorgegeben. Und der Respekt vor den Adelsprivilegien nahm ab. Die männlichen Unterschicht-Kämpen eigneten sich bestimmte, preisgünstige und leicht zu verbergende Vorrechte einfach an. So auch das Recht Karten zu dreschen. Sichtbarster Ausdruck: Das so genannte bayrische Blatt, mit Eicheln und merkwürdigen Kringeln. Das, mit dem man Schafkopf spielt.

Sowohl Skat als auch Doppelkopf sind jüngere Weiterentwicklungen. Aber Skat stellt im Grunde den Klassenkampf nach: Derjenige, der das höchste Gebot abgibt, erhält den Stock, darf bestimmen was Trumpf ist und legt schon mal Kapital auf die Bank. Die anderen sind das Proletariat: Die Mehrheit zwar, aber doch mit den geringeren Erfolgsaussichten. Seit Menschengedenken hat sich da nichts geändert. Und gemischtgeschlechtliche Runden sind, beim Schafkopfen nahezu verboten, beim Skat zumindest unüblich.

Das ist beim Doppelkopf ganz anders. Es gibt, so viel ist richtig, reine Frauenrunden. Aber dort heißt es erst einmal: Sich zusammen setzen und über die Regeln unterhalten. Es sei denn, man richtet sich nach denen des deutschen Doppelkopfverbandes in Braunschweig. Aber wer tut das schon. Also wird, finden sich vier spielfähige Menschen und ein Kartenspiel zusammen, angeregt diskutiert. Das geschieht noch, bevor es ans Verlieren oder Gewinnen geht, dauert durchaus bis zu einer Stunde, und endet erst, das ist dringend notwendig, wenn sich ein tragfähiger Konsens herauskristallisiert hat. Die einen spielen nämlich mit, die anderen ohne Neuner, bei jenen sticht die erste die zweite Herz-Zehn, die überall der höchste Trumpf ist, bei den anderen wird aber gerade das genau umgekehrt gehandhabt. Wenn jemand das schwierig über die Runden zu bringende Karo-As, also den Fuchs, gleich doppelt hat, verwandelt er sich in ein Schwein, das alle aussticht. Nur ist die Frage, ob beide, oder nur der eine. Fließende Regeln, und auch in Gruppen, die lange schon miteinander umgehen, ist diese Dynamik nicht versiegt: Nach langen Diskussionen und ohne Veganern böses zu wollen: Für uns haben wir den Fleischlosen, den andere als Asse-Solo bezeichnen, abgeschafft. Ein für alle Mal. Nur manchmal machen wir eine Ausnahme.

Parteien bilden sich immer wieder neu, bestimmt durch die Verteilung der Kreuzdamen, zumindest, wenn kein Vorbehalt angesagt wurde. Auch spielen manche mit „Genschern“, eine leicht modernistische Regel, benannt nach einem deutschen Außenminister, die unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit eröffnet, mitten in der Partie den Koalitionspartner zu wechseln.

Das kann durchaus zu Zornesausbrüchen führen. Aber die legen sich wieder, wie in jeder parlamentarischen Demokratie. Weniger komplex als die ist Doppelkopf auch nicht. Aber das Spiel ist keineswegs ihr Abbild. Es ist ihr Ideal.

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