berliner szenen: Kein Erzengel wacht hier
Unterwegs mit dem Rad sah er einen alten Mann mit einem durchsichtigen Plastikbeutel, darin eine Tüte Saft. Über dem Eingang des Theaters, das die Politik kaputtgemacht hatte, war in großen Buchstaben das Wort „Sommer“zu lesen. An einer Kreuzung standen eine Frau und ein Mops und schauten in seine Richtung, als erwarteten sie ihn schon lange.
Er überfuhr mehrere rote Ampeln und ärgerte sich, wenn andere es nicht taten und auf Grün warteten, obwohl die Straße frei war. Einem Paar rief er im Vorbeifahren zu, was ist mit euch, habt ihr keine Augen im Kopf, könnt ihr denn gar nichts alleine tun? Aber viel zu leise, sodass die Angerufenen nicht mal aufschauten. Ein anderes Mal wurde er wütend auf eine Mutter, die mit ihrem Kind an der Ampel stehenblieb, während er weiterfuhr. Jetzt denkt sie, dass ich ihr Kind verderbe.
Rechts neben der Fahrbahn war eine Baustelle. Ein Teil des neuen Gebäudes hatte schon Fenster, die mit blauer Folie beklebt waren, aus einem anderen Teil ragten oben noch die Stahlverstrebungen, um die herum der Beton gegossen wurde. Zwischen den Gebäudeteilen war eine Lücke. Der Beton ist ihnen ausgegangen, das Gebäude wird niemals fertig. Immer gefasst auf die Konfrontation mit einem Fußgänger oder Autofahrer kürzte er den Weg ab, kreuzte bei Rot die Heinrich-Heine-Straße, manövrierte zwischen Sperrpfosten, Ampelmast und Wartenden hindurch und jagte dann auf dem Bürgersteig am Ex-Kaiser’s vorbei und weiter auf dem schmalen Fußgängerweg Richtung Engelbecken, wo er langsamer wurde und hinter zwei Frauen mit Kinderwagen plötzlich sehr geduldig im Schritttempo die Rampe hinunterfuhr. An dieser Stelle verlief einmal der Todesstreifen und kein Erzengel blickte von Sankt Michael nach Westen.
Sascha Josuweit
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