Das Mitdenken hinkt hinterher

Symptome der Krise: „Still Life“ von Marta Gornicka im Gorki Theater beschwört den Chor als Kraft gegen den Zerfall der Gesellschaft

Von Katrin Bettina Müller

Wer spricht? Das ist in Marta Górnickas Inszenierung „Still Life. A Chorus for Animals, People and all other lives“, die am Samstag im Gorki Theater Premiere hatte, nicht einfach zu beantworten. Da ist zunächst der Chor von acht Schauspielerinnen auf der Bühne, gekleidet in graue Overalls mit kleinen individuellen Abwandlungen. Ihre Bewegungen sind oft synchron, kantig und von Stopps unterbrochen: so, wie sich Menschen eben künstliche Intelligenzen oder Roboter vorstellen. Die schnell gesprochenen Sätze haken sich nicht selten fest an einem Wort, einem Buchstaben, einer kleinen Fehlfunktion der Maschine. Figuren aus einer posthumanen Zukunft.

Über der Bühne stehen Kapitelüberschriften, die die schnell abgefeuerten Sätze unterschiedlichen Gruppen zuweisen. Da gibt es den „Chor der Toten Tiere“, die präpariert im Naturkundemuseum zu sehen sind: Die beklagen den Zynismus einer Nachahmung des Lebendigen gerade dort, wo der Mensch in ihr Leben schon bis zur Ausrottung eingegriffen hat. Es gibt den „Chor der Mütter, die den Holocaust überlebt haben“, die in der Geschichte eine ständige Wiederholung von Ausgrenzung und Vernichtung sehen. Und es gibt die Digitalen Horden, für die Ausgrenzung das Mittel ihrer Wahl für den Erhalt der eigenen Identität ist. Sie bestehen auf den Privilegien der Deutschen in Deutschland und verweisen alles andere vom Platz. Ein Text zum Gänsehautkriegen, der aber wie das meiste an diesem Abend in einem euphorischen Gestus präsentiert wird.

Für die Regisseurin Marta Górnicka, die das Libretto schrieb, ist dies ihre zehnte Produktion mit einem Sprechchor und die sechste, die sie am Gorki Theater zeigt. In einem Interview im Programmheft beschreibt sie, welche Kraft sie der Multitude eines Chors zutraut: „Die Existenz des Chors ist nur dann möglich, wenn die Anwesenheit aller Individuen erkannt und anerkannt wird (…). Der Chor kann sich deshalb auch Personen mit extremen Ansichten öffnen, die Sprachen der radikalen Gegenöffentlichkeit benutzen. (…) Durch diese Arbeit verwandeln sich tödliche Antagonismen und Affekthandlungen, um die Anderen loszuwerden, in agonistische Koexistenz.“

Vieles bleibt Behauptung

Das Ziel von Marta Górnicka ist also klar, wie überhaupt aus dem Interview deutlich wird, auf welche Kontexte sie sich bezieht und warum. Im Erlebnis der Aufführung ist das allerdings oft nicht so einfach zu entschlüsseln. Die Worte und Sätze fliegen so schnell auf die Zu­schaue­r:in­nen zu, ihre Begrifflichkeiten sind teils sehr komplex, das Hörverständnis kommt nicht immer mit. Das Mitdenken hinkt dem Vordenken auf der Bühne stets etwas hinterher.

Der Text, das Libretto behauptet viel. Der Kolonialismus und die Vernichtung der Tierwelt, die in Naturkundemuseen ein gedenkendes Nachleben erfahren, werden nachvollziehbar miteinander verknüpft. Die Begriffe Ausbeutung, Ausschluss, Kapitalismus und Westen werden dann aber pauschal gehandhabt. Die Verknüpfung mit der Erfahrung des Holocaust und neuen antisemitischen Anschlägen ist dann auch etwas spekulativ, vielleicht sogar eine Instrumentalisierung. Auf jeden Fall sind die 60 Minuten der Performance dadurch mit wichtigen Themen so vollgepackt, dass für ein genaueres Hinsehen viel Zeit nicht bleibt.

Andererseits ist das Bühnenerlebnis davon geprägt, dass die vorgetragene Kritik meist in einem Gestus des Werbens ausgestellt wird. Die Sprechenden nehmen Posen von Gewinnern ein, laufen wie auf dem Laufsteg der Mode, tanzen wie die Roboter, zeigen die gut gelaunten Gesichter des Entertainments. Ihre Körper sprechen von Fröhlichkeit, die Münder von Traurigkeit. Das erzeugt eine Spannung, wenn auch nicht über die Dauer der Performance.

Dies ist übrigens die erste Uraufführung und Premiere des Gorki Theaters in der Spielzeit 2021/22. Wegen der vielen pandemiebedingten Verschiebungen hat sich das Theater zu einer kurzen Sommerpause und dem frühen Start entschlossen. Die Schauspielerin Sesede Terziyan begrüßt dann auch am Ende erfreut die Rückkehr des Publikums. Kleiner Wermutstropfen: Das gesamte Leitungsteam ist gerade in Quarantäne.

Wieder am 5. September