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Dem Vielvölkerstaat Äthiopien droht der innere Zerfall

Seit dem Amtsantritt des jungen Reformers Abiy Ahmed als äthiopischer Premierminister 2018 brechen unterdrückte Spannungen immer offener in Gewalt aus

Von Ilona Eveleens und Dominic Johnson

Eine Einheit war Äthiopien nie – nicht unter dem jahrtausendealten Kaiserreich, nicht unter der kommunistischen Militärjunta ab der Revolution 1974 und nicht unter der von Rebellen aus Tigray dominierten EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker), die das Land ab 1991 regierte. Historische Rivalitäten unter den mehr als 80 Volksgruppen des mittlerweile über 110 Millionen Einwohner zählenden Landes wurden durch autokratische Führungen unterdrückt, auch wenn die EPRDF Äthiopien erstmals als Bundesstaat gliederte, mit Regionen auf ethnischer Basis.

Nachdem Premierminister Abiy Ahmed 2018 sein Amt antrat und später die EPRDF zugunsten seiner eigenen neuen gesamtäthiopischen Partei PP (Wohlstandspartei) auflöste, kamen ethnische Konflikte an die Oberfläche. Sie wurden politisiert und zunehmend kriegerisch.

Am meisten Aufmerksamkeit erhält Tigray, dessen Rebellenführer die EPRDF gegründet hatten und bis zu Abiys Amtsantritt die äthiopische Politik dominierten. Von Abiy wurden sie an den Rand gedrängt, bei seiner neuen Partei machten sie als einziger Bestandteil der EPRDF nicht mit. Seit November 2020 befinden sie sich im Krieg mit der Zentralregierung. Sie haben Äthiopiens Armee aus großen Teilen Tigrays verdrängt, sind auch in der Nachbarregion Afar im Einsatz und kämpfen gegen Milizen der Amhara-Region, die Teile Tigrays besetzt gehalten hatten.

Am vergangenen Freitag erklärte die Afar-Regionalregierung die Generalmobilmachung zum Kampf gegen Tigray, am Sonntag tat das auch die Amhara-Regionalregierung. Amhara-Nationalisten sehen ihre Volksgruppe als historisches Herrschervolk Äthiopiens und befinden sich auch im Konflikt mit der größten äthiopischen Volksgruppe der Oromo, in deren historischem Siedlungsgebiet die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba liegt.

Neben dem Tigray-Konflikt gibt es nun in Äthiopien unzählige kleine und große Brennpunkte. Ein Beispiel: die aneinander grenzenden Regionen und Somali. Somali sind traditionell Hirten, Oromo sind Bauern und Hirten. Es ist schwierig, beide Regionen abzugrenzen, weil sich Hirten mit ihren Tieren nicht einmal von Grenzen hindern lassen auf ihrer Suche nach Weideland und Wasser. Der Somali-Oromo-Konflikt hat dieses Jahr bereits mindestens 150 Tote gefordert.

Die Somali-Region ist auch in einen Streit verwickelt mit der ebenfalls angrenzenden Afar-Region um drei strategisch wichtige Dörfer an der Hauptstraße von Addis Abeba zum Meer, die 2014 der Somali-Region weggenommen und Afar zugeschlagen worden waren. Es gibt seitdem Dutzende Tote und 29.000 Menschen sind vertrieben.

Komplizierter werden die Konflikte in Benishangul-Gumuz im Westen des Landes an der Grenze zu Sudan, wo zahlreiche Ethnien leben und der prestigeträchtige Renaissance-Staudamm GERD am Blauen Nil in Bau ist. Wenn er in Betrieb genommen wird, wird er das größte Wasserkraftwerk Afrikas sein. Dieses Mammutprojekt hat der lokalen Bevölkerung nur wenige Arbeitsplätze und Vorteile gebracht, aber gleichzeitig Menschen aus anderen Regionen angezogen. Das Ressentiment der ursprünglichen Bewohner gegen zugezogene Amhara, Oromo und Tigrayer hat sich in Gewalt verwandelt, wofür vor allem Milizen der Gumuz-Volksgruppe verantwortlich gemacht werden. Geschätzt wird, dass es inzwischen Tausende Tote gibt und mehr als 100.000 geflohen sind.

Im Schatten des blutigen Krieges in Tigray werden all diese Konflikte kaum wahrgenommen. Aber die Zentralregierung bekommt sie nicht unter Kontrolle, die beteiligten Regionalregierungen zeigen sich wenig an Frieden interessiert, und auf Dauer könnte diese Situation Äthiopien zerfallen lassen.

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