Musikland Brasilien: Einverleiben und verwandeln
Neue Platten aus Brasilien zeigen, wie die Grenzen der Musikgenres verwischen: Samba wird mit Punk gepaart, Forró mit Rap und Grime mit Funk Carioca.
Was haben Rock'n'Roll-Sänger Roberto Carlos, Soul-Crooner Tim Maia und die Trash-Metal-Band Sepultura gemein? Die brasilianischen Künstler zeigen, wie sich Trends im globalen Pop seit langem im größten Land Lateinamerikas widerspiegeln – und in etwas Neues verwandelt werden. Was auch für die Subkultur gilt. In der Megacity São Paulo etwa verbreiteten sich Graffiti-Kunst und Skaten in den 1980er Jahren und verhalfen HipHop und Punk zum Durchbruch.
Auch der Musiker Luciano Valério wuchs damals im Sozialbauviertel Cecap am Rande São Paulos mit dem Skateboard auf und hörte US-Bands wie Fugazi und Lungfish. Einer der skatenden Nachbarjungs war Kiko Dinucci, heute ein gefragter Gitarrist. Rückblickend sagt Valério: „Skate, Metal und Punk sind alle Teile der gleichen Welt.“ Unter seinem Alias MNTH hat Valério nun beim britischen Label Mais Um ein gleichnamiges (als Kassette und im Stream erhältliches) Album produziert; es wirkt wie ein halbstündiges sonores Eintauchen in die experimentelle Musik São Paulos, ein schriller Mix aus Dub-Techno, Jazz, afro-brasilianischer Percussion – inspiriert vom Geist des Hardcore.
Valério ist integraler Teil dieser Szene und hat bereits 2007 das wichtige Label Desmonta mitbegründet, auf dem das Samba-Punk-Trio Metá Metá ebenso veröffentlicht wie der Schlagzeuger und Komponist M. Takara (Pharoah Sanders, Damo Suzuki). Der steuert seine eigenwillige Percussion auch auf dem Album von MNTH bei. Zwischendurch rattert, brummt und fiept es in den Sounds dermaßen, dass man sich in einem digital-menschlichen Binärsystem wähnt. Ein begeisterter Fan schrieb, die Musik klinge „wie Maschinen, wenn sie sich in Wäldern entwickeln würden“.
Patti Smith mit Kajalstift
In dem Coming-of-Age-Film „My Name Is Baghdad“ von Caru Alves de Souza, der bei der Berlinale im Vorjahr Weltpremiere feierte, geht es ebenfalls ums Skaten in São Paulo. Der Film zeigt auf berührende Weise, wie sich eine Gruppe Mädchen durch das Skaten emanzipiert. Eine der Hauptrollen (als Mutter) spielt Karina Buhr. „Desmanche“, das aktuelle Album der großartigen Maracatú-Percussionistin und Sängerin aus Recife („Patti Smith mit Kajalstift“), erschien bereits Ende 2019.
MNTH: „MNTH“ (Mais Um)
Karina Buhr: „Desmanche“ (Bandcamp)
Lucas Santtana: „3 Sessions in a Greenhouse“ (Mais Um)
José Mauro: „A Viagem Das Horas“ (Far Out Recordings)
Aricia Mess: „Versos do Mundo“ (Koro Koro Music)
Doch es verdient hier noch einmal besondere Erwähnung, weil es sehr gelungene, abwechslungsreiche Musik enthält – ein guter Einstieg in das Werk einer gereiften, Postpunk mit der Música Popular Brasileira verbindenden Künstlerin, die Traumatisches zu verarbeiten hat: Vor einiger Zeit machte Buhr öffentlich, wie sie als junge Frau jahrelang von ihrem Maracatú-Lehrer psychisch und körperlich missbraucht wurde. Was ihren ersten Hit in einem anderen Licht erscheinen lässt: „Eu sou uma pessoa má, eu mentí pra voce“ – „Ich bin ein schlechter Mensch, für dich habe ich gelogen.“
Noch älter ist das Album „3 Sessions in a Greenhouse“ von Lucas Santtana. Denn das Original wurde bereits vor 15 Jahren in drei legendären Studiosessions aufgenommen und von Santtana und Recifes Soundmaster Buguinha Dub in den nuller Jahren produziert. „Zeit existierte damals nicht. Es gab keine Telefone und wir rauchten das beste Weed in Rio“, erinnert sich Santtana. Heraus kam dabei ein Werk, mit dem sich der Komponist einen Namen als Solist machte.
Die Musik mischt psychedelischen Samba und scheppernden elektronischen Carioca Funk mit spirituellen Dub in guter Black-Ark-Studio-Manier. Das Label Mais Um hat das Album nun wieder neu veröffentlicht – remastert vom Berliner Dubproduzenten Pole (Stefan Betke), was Santtanas Tracks einen zusätzlichen Drive verpasst.
A propos Wiederveröffentlichungen: Nachdem Far Out Recordings vor fünf Jahren José Mauros Album „Obnoxious“, ein nahezu unbekanntes Meisterwerk aus dem Jahr 1970, neu aufgelegt hat, folgte im Mai Teil Zwei: „A viagem das horas“. Damit wurde auch ein Gerücht aus der Welt geräumt: Denn Mauro ist keinesfalls bei einem Autounfall gestorben, wie es lange hieß, sondern lebt in einem Vorort von Rio, allein und verlassen. An die eigentümliche Schönheit des Vorgängers reicht sein zweites Album aber leider nicht heran. Was insofern nicht wundert, als es nur Material enthält, für das es auf „Obnoxious“ keinen Platz mehr gab.
Wieder sind dramatisch-dissonante Melodien in orchestraler Inszenierung zu hören, dazu Mauros Bariton und die rätselhaft-lyrischen Texte seiner kongenialen Partnerin Ana Maria Bahiana. Mauro und Bahiana hatten sich vom Katholizismus ihrer Familien ab- und dem Candomblé mit seinen afrobrasilianischen Rhythmen zugewandt. So fanden sie spirituellen Halt in einer Zeit, als die Militärjunta in Brasilien künstlerische Freiheit unterdrückte.
Samba auf neuem Label
Diese dunkle Zeit liegt 50 Jahre zurück. Doch es ist kein Zufall, dass Militärs in der momentanen rechtspopulistischen Regierung Brasiliens wieder besonders tonangebend sind und es viele Brasilianer angesichts der Umstände vorziehen, ihre Heimat zu verlassen – zumindest zeitweilig. Dazu gehört auch Arícia Mess, deren Stimme an Diven wie Elza Soraes und Dona Onete erinnert. Letztere hat dann auch einen Gastauftritt auf Mess´ neuem Album „Versos do mundo“, dessen Songs in São Paulo, London und Lissabon aufgenommen wurde – jenen Städten, in denen Mess die vergangenen Jahre gelebt hat.
Es ist ein schönes, elektronisch angereichertes Samba-Album. Vom neuen Label Koro Koro Music veröffentlicht, hat sich Mess dafür auch aus dem unermesslichen Fundus der brasilianischen Kultur bedient: Im Song „Há quem chame“ vertont sie etwa ein Gedicht Natalia Barros', während „Noite de temporal“ („Sturmnacht“) eine Coverversion des Klassikers von Dorival Caymmi ist – aufgenommen nach der letzten Präsidentschaftswahl. Seit Jair Bolsonaros Amtsantritt hat Mess das Gefühl, eine tiefe Nacht senke sich über ihr Land.
Und was ist mit den Sommerhits aus Brasilien? Deren Zeit startet normalerweise Ende Dezember, wenn die Temperaturen steigen und die Vorbereitungen für die Karnevalsaison beginnen. Doch 2021 fiel sie pandemiebedingt aus. Und damit auch Überraschungshits wie etwa „Envolvimento“ von MC Loma & As Gêmeas Lacração, drei Vorstadt-Teenagerinnen aus Recife, die zum Karneval 2018 das neue Hybrid-Genre Bregafunk populär machten.
Trotzdem hat der aktuelle Popkosmos Brasiliens Einiges zu bieten. Was auch daran liegt, dass fast alle Regionen des riesigen Landes neben reichen Musiktraditionen lebendige Subkulturen haben. Ein Trend geht zweifellos dahin, die Grenzen der Genres zu verwischen. Nehmen wir zum Beispiel Omulus und Bnegãos „Salve 2 (Ribuliço Riddim)“.
Die beiden Musiker aus Rio de Janeiro verbinden konventionellen, mit Akkordeon und Triangel gespielten Forró aus dem Nordosten mit HipHop und dem neuen elektronischen Stil Pisadinha, eine Mischung aus Technobrega und Elektro-Forró. Omulu, der bereits vor Jahren aus Funk Carioca und karibischen Reggaeton den swingenden Rasteirinha-Stil kreiert hat, liefert die Beats und MC-Legende Bnegão rappt in dem Protestsong darüber, was in diesen stürmischen Tagen zu tun ist: „Existência, resistência!“.
Rassistische Diskriminierung
Wichtigster Trend im Underground ist momentan die Adaption und (in der Tradition des kulturellen Kannibalismus stehende) fröhliche Einverleibung und Verwandlung von britischem Grime- und Drillsound durch afrobrasilianische Künstler, darunter zunehmend Frauen. Es sind eher düstere Genres, deren Beliebtheit im Land von Bossa Nova und Samba überraschen mag.
Wie in Großbritannien ist gerade der Drill (wegen seiner Verbindung zur Gangkriminalität) auch in Brasilien rassistischer und klassistischer Diskriminierung ausgesetzt. Immerhin gibt es eine Reihe von Internetradios, die den neuen Sound spielen und mit „Brasil Grime Show“ einen eigenen Youtube-Kanal.
Damit haben Grime und Drill gewissermaßen den Stab vom marginalisierten Funk Carioca aus den Favelas der urbanen Peripherien des Landes übernommen; MCs wie Fleezus and Febem aus São Paulo und SD9 and LEALL aus Rio de Janeiro – und Frauen wie N.I.N.A. Viele haben laut der Rapperin aus Rios Favela Cidade Alta immer noch Probleme damit, wenn „Schwarze Frauen Musik machen, glaubwürdig sind und ihre eigenen Ideen verwirklichen“.
Dabei ist N.I.N.A geradezu unwiderstehlich, wenn sie ihre Konkurrent*innen in „A bruta, a braba, a forte“ als Klapperschlange zum battle auffordert: „Wenn Schlangen mit einer Umarmung töten/ Zeige ich dir die Umarmung des Todes.“
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