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Das Kapital in der Pflicht

Die einst in Schwaben ersonnene Idee der Kreditgenossenschaft lebt bis heute in den Genossenschaftsbanken fort – längst sind Genossenschaften in rund 50 Branchen etabliert

Mehr als die Hälfte aller Kunden von Volks- und Raiffeisenbanken sind zugleich Teilhaber ihrer Bank Foto: Antje Lindert-Rottke/ddp

Von Bernward Janzing

Oft hat der Ort einer Idee eine besondere Symbolik. Im württembergischen Öhringen gründeten 50 Bürger im Jahr 1843 unter dem Namen „Öhringer Privatspar- und Leihkasse“ die erste Kreditgenossenschaft. Schnell fanden sich Nachahmer – so beschreibt heute der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR) seine Historie.

Die Genossenschaftsbank war also eine schwäbische Idee. Und da die schwäbische Hausfrau gemeinhin als der Inbegriff des ökonomischen Sachverstands gilt, schmückt man sich mit einer solchen Gründungsgeschichte natürlich gerne. Die Idee der Kreditgenossenschaft sei dann „zum Exportschlager“ geworden, so der BVR. Überall entstanden Genossenschaften nach deutschem Vorbild – etwa in Skandinavien, in Nordamerika, in Japan. Heute haben die Genossenschaften weltweit 800 Millionen Mitglieder. Im Jahr 2016 wurde die Genossenschaftsidee sogar von der Unesco in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.

Die besondere, schwäbisch geprägte Solidität der Genossenschaft, der maximale Mitgliederschutz, lebt bis heute fort. Der Genossenschaftsverband prüft jede Genossenschaft vor ihrer Gründung und begleitet sie fortan stetig. Das ist bei anderen Gesellschaftsformen nicht der Fall. Geht man beispielsweise zum Notar, um eine GmbH zu gründen, fragt niemand danach, ob das Geschäftsmodell taugt. Deswegen haben Genossenschaften auch die niedrigste Insolvenzquote unter allen unternehmerischen Rechtsformen.

Auch bei den Banken macht sich diese Verlässlichkeit bemerkbar: „Die Sicherungseinrichtung der Genossenschaftsbanken gehört zu den umfassendsten der Einlagensicherung aller Banken“, sagt Burghard Flieger, Freiburger Volkswirt und Experte für das Genossenschaftswesen. Die Einlagensicherung habe sich „über nunmehr fünfundachtzig Jahre zum Stabilitätsfaktor der deutschen Kreditwirtschaft entwickelt“.

Der Genossenschaftsverband betont, dass die Genossenschaftsbanken viele Dienstleistungen anbieten, die es auch bei privaten Banken gibt. Gleichwohl bestehe „ein fundamentaler Unterschied“: „Kreditgenossenschaften stellen nicht die Gewinnmaximierung in den Vordergrund, sondern den Mitgliedernutzen.“

Eindrucksvoll präsentierten die Genossenschaftsbanken ihre Stärke, als im September 2008 die Investmentbank Lehman Brothers die Finanzwelt in die Krise stürzte. „Als Großbanken mit Milliardensummen aus Steuermitteln gerettet, verstaatlicht oder geschlossen werden mussten, zeigte sich die kerngesunde Substanz der deutschen Genossenschaftsbanken“, heißt es zum Beispiel bei der VR-Bank in Südniedersachsen. Die Genossenschaftsbanken hätte sich nämlich „aus den windigen Geschäften herausgehalten und verfügten über ausreichend Eigenkapital, um die Krise schadlos zu überstehen“.

Manche Genossenschaftsbank, wie etwa die GLS Bank, erlebte nach der Lehman-Pleite einen enormen Kundenzuwachs – der Wert solider Geschäfte war plötzlich in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Erstmals überschritt im Jahr 2020 die Bilanzsumme der gesamten Volks- und Raiffeisenbanken die Marke von 1 Billion Euro. Einer ihrer wichtigsten Vorteile gegenüber Konzepten anderer Geldhäuser sei deren Regionalität, ergänzt Volkswirt Flieger. Denn die dezentrale Präsenz der Unternehmen erleichtert den Mitgliedern der gut 800 deutschen Genossenschaftsbanken die Mitbestimmung. Mehr als die Hälfte aller Kunden von Volksbanken und Raiffeisenbanken sind zugleich Teilhaber ihrer Bank.

Anderer Ansatz: Der Nutzen für die Mitglieder ist wichtiger als die Maximierung des Gewinns

Zum anderen sind aber auch die Geschäfte regionaler: Wer in grundsolide Objekte vor Ort investiert, in Gebäude und Unternehmen, in die örtliche Realwirtschaft, ist erkennbar weniger verwundbar als jene Akteure, die glauben, mit obskuren Finanzspekulationen das schnelle Geld machen zu können. Volksbanken und Raiffeisenbanken entstanden schließlich als Selbsthilfeeinrichtungen von mittelständischen Unternehmern und Landwirten – ein Selbstverständnis, das bis heute prägt.

Auch bald 180 Jahre nach Gründung der ersten Genossenschaftsbank ist deren Konzept weiterhin besonders im deutschen Südwesten beliebt: Rund 35 Prozent der Bevölkerung im Ländle sind Mitglied in mindestens einer Genossenschaft, hat der Baden-Württembergische Genossenschaftsverband einmal erhoben. Eine solche Durchdringung der Gesellschaft mit der Idee des solidarischen Wirtschaftens gebe es sonst nirgends. Bundesweit haben die Genossenschaften 18,4 Millionen Mitglieder. Die betreffenden Unternehmen sind nicht nur im Bankenwesen zu Hause, sondern in rund 50 Branchen. Dazu zählen etwa die Winzer, der Obst- und Gemüsehandel, Bäckereien und seit der Jahrtausendwende auch die Energiegenossenschaften.

Manche Genossenschaften, wie etwa Dorfläden, treten dort an, wo andere Unternehmen sich zurückgezogen haben, und übernehmen Aufgaben der örtlichen Daseinsvorsorge – als Selbsthilfeeinrichtungen der Bürger. „Diese Unternehmen praktizieren damit Wirtschaft im besten Sinne Ludwig Erhards: soziale Marktwirtschaft im Dienste der Gesellschaft, Unternehmertum mit sozialer Verantwortung“, sagte einmal in einem Interview Roman Glaser, der Präsident des baden-württembergischen Genossenschaftsverbands.

Aus den Reihen der Genossenschaften kam daher im Jahr 2018 ein Bonmot auf, das sich auf den Sozialreformer Friedrich Wilhelm Raiffeisen einerseits und Karl Marx andererseits bezog, die beide in jenem Jahr ihren 200. Geburtstag hatten: „Der eine schrieb ‚Das Kapital‘– der andere nahm es in die Pflicht.“