350.000 für Enteignungen

Der Volksentscheid über die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne kommt: Jede* zehnte Ber­li­ne­r*in hat in den vergangenen vier Monaten für Enteignungen unterschrieben

Der Weg Damit es zu einem Volksentscheid kommt, müssen rund 175.000 Berliner*innen für eine Initiative unterschrieben haben. Dieses Quorum dürfte Deutschen Wohnen und Co enteignen locker überschritten haben.

Das Ziel Beim Entscheid müssen mindestens 25 Prozent der Berliner Wahlberechtigten für das Anliegen stimmen und zudem eine Mehrheit bilden. Angesichts des wahrscheinlichen Abstimmungstermins parallel zur Bundestags- und Abgeordnetenhauswahl dürfte nur die zweite Bedingung relevant werden. An einer zu niedrigen Beteiligung wird der Entscheid kaum scheitern. (taz)

Von Gareth Joswig

Um 22 Uhr brach endgültig Jubelstimmung aus in einem Büro in der Kreuzberger Grae­fe­straße. Hier, in den Räumen des Versicherungsmakler Michael Prütz, war zeitweise das Hauptquartier der Kampagne Deutsche Wohnen und Co enteignen untergebracht; hier wurden bis zuletzt Unterschriftenlisten in gelbe Postkisten gestapelt. „Bis spät in die Nacht kamen ununterbrochen Leute mit Listen vorbei – es war Partystimmung“, berichtet Prütz kurz vor der Abgabe der Unterschriften am Freitag der taz.

Allein am Donnerstag vor Abgabeschluss seien in dem Büro noch einmal 40.000 Stimmen zusammengekommen. Insgesamt hatten am Freitagmorgen knapp 350.000 Menschen unterzeichnet, genau: 343.591. So viele Unterschriften sammelte noch kein Berliner Volksbegehren zuvor – und all dies während einer Pandemie ohne Großveranstaltungen inklusive mehrmonatigem Lockdown während der Sammelphase. Der Wille vieler Mieter*innen, den explodierten Wohnungsmarkt umzukrempeln, er ist deutlich erkennbar.

Fast jeder zehnte Berliner hat für das Volksbegehren unterschrieben. Die Kampagne will private Wohnungskonzerne mit mehr als 3.000 Wohnungen vergesellschaften. Mit der erfolgreichen Unterschriftensammlung wird der 26. September voraussichtlich zum Super-Super-Wahlsonntag. Denn dann werden nicht nur Bundestag und Berliner Abgeordnetenhaus neu gewählt, sondern es wird auch über die Enteignungsfrage abgestimmt. Deutsche Wohnen und Co enteignen wollte alle Unterschriften am Freitagnachmittag nach Redaktionsschluss der Landeswahlleiterin bei einer Partykundgebung übergeben.

„Der Erfolg der zweiten Sammelphase zeigt, dass sehr viele Ber­li­ne­r*in­nen bezahlbaren Wohnraum in Gemeineigentum wollen“, sagte Jenny Stupka, Sprecherin der Initiative, laut Mitteilung: „Die Ber­li­ne­r*in­nen lassen sich nicht mit Symbolpolitik abspeisen.“

Die Kampagne, die von zeitweise deutlich über 1.000 aktiven Samm­le­r*in­nen unterstützt wurde, sammelte seit vier Monaten Unterschriften. Das erforderliche Quorum für einen Volksentscheid liegt in Berlin bei 7 Prozent der Wahlberechtigten, also circa 175.000 Personen. Selbst wenn ein gewisser Teil der Unterschriften ungültig sein sollte, dürfte diese Zielmarke deutlich übertroffen worden sein. Ende Mai lag der Anteil der ungültigen Unterschriften bei circa einem Drittel. Setzt sich der Trend fort, dürfte das Volksbegehren gut 230.000 gültige Stimmen gesammelt haben.

Das Volksbegehren fordert ein Berliner Vergesellschaftungs­gesetz auf Grundlage des bisher nie genutzten Grundgesetzartikels 15, nach dem ganze Wirtschaftszweige gegen Entschädigung enteignet werden dürfen. Rechtlich gesehen wäre das zwar Neuland, aber möglich, wie auch die Innenverwaltung von Andreas Geisel (SPD) nach über einjähriger rechtlicher Prüfung zerknirscht zugeben musste.

Unterstützung erhält die Kampagne von den Landesverbänden der Linken, der Grünen, von IG Metall, Verdi, GEW, der DGB-Jugend, den Jusos und Mietervereinen. SPD, CDU, FDP, AfD und nicht zuletzt die private Immobilienwirtschaft sind gegen das Anliegen. Bausenator Sebastian Scheel (Linke) sagte am Freitag der taz, die hohe Zahl an Unterschriften zeige, das sich die Ber­li­ne­r*in­nen weitere Anstrengungen wünschen, um steigenden Mieten und Verdrängung zu begegnen.

„Bis spät in die Nacht kamen ununterbrochen Leute mit Listen vorbei“

Michael Prütz, DW enteignen

Die Kosten für Entschädigungen sind umstritten und liegen je nach Rechtsauffassung zwischen 8 und 36 Mil­liar­den Euro. Während die Initiative davon ausgeht, deutlich unter Marktwert entschädigen zu dürfen, läge der bei der Kostenschätzung des Senats zugrunde gelegte Verkehrswert zwischen 28 und 36 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Der Landeshaushalt Berlins für das Jahr 2021 umfasst 32 Milliarden Euro.

Nach dem im April vor dem Bundesverfassungsgericht gescheiterten Mietendeckel von Rot-Rot-Grün waren tausende Mie­te­r*in­nen auf die Straße gegangen, um gegen die angestiegenen Mietpreise und Verdrängung zu demonstrieren. In den vergangenen Jahren hatten unter dem Motto „Mietenwahnsinn“ immer wieder Zehntausende protestiert.

Von knapp 2 Millionen Berliner Wohnungen sind rund 1,6 Millionen Mietwohnungen. Etwa 240.000 davon gehören großen Immobilienkonzernen, von denen viele wegen Spekulation, mangelhafter Instandhaltung und hohen Mietsteigerungen kritisiert werden. In etwa so hoch ist in Berlin auch der zusätzliche Bedarf an dauerhaft günstigem Wohnraum. Die Volksinitiative will die privaten Wohnraumbestände in eine Anstalt öffentlichen Rechts überführen und so dauerhaft günstige Mieten garantieren. Ein großer Teil der zur Diskussion stehenden privaten Wohnraumbestände wurde Mitte der Nullerjahre von Berlin unter der rot-roten Landesregierung verkauft.

Der häufigste Grund für ungültige Unterschriften ist im Übrigen eine fehlende deutsche Staatsbürgerschaft. Nichtdeutsche Ber­li­ne­r*in­nen sind von der direkten Demokratie ausgeschlossen, wie auch die Ent­eig­nungs-­Aktivist*innen immer wieder kritisiert hatten. „Ber­li­ne­r*in­nen ohne deutschen Pass sind ein wichtiger Teil unseres Gemeinwesens“, sagt Jane Plett von der Initiative. Es sei ein Skandal, dass diese nicht mitentscheiden dürften. Der ungewöhnlich hohe Anteil an ungültigen Stimmen erklärt sich auch dadurch, dass das Volksbegehren alle Ber­li­ne­r*in­nen aufgefordert hatte, zu unterschreiben. Ende April waren 56,3 Prozent der ungültigen Unterschriften auf eine fehlende Staatsangehörigkeit zurückzuführen.