Widerspruchsfreie
Ambitionen

Es hat lange gedauert, aber nun hat Göttingen ein neues Ausstellungshaus für zeitgenössische Kunst mit internationaler Ausrichtung. Architektonisch, ästhetisch und intellektuell überzeugt das Projekt des Verlegers Gerhard Steidl – und wirkt doch merkwürdig aus der Zeit gefallen

Das Werden begleitet: Standbild aus der Installation „Neue Räume“ (2019–2021) Foto: Sebastian Stumpf

Von Bettina Maria Brosowsky

Die Reitstallgasse am nördlichen Rand der Göttinger Altstadt gibt es noch. Das denkmalgeschützte Reitstallgebäude der Universität allerdings wurde 1968 abgerissen – trotz Protesten aus der Bevölkerung und von Studierenden. Ein Kauf- mit Parkhaus, vor ein paar Jahren umgebaut zum „Carrée“ geheißenen Einkaufszentrum, besetzt seitdem diesen Ort mitsamt der alten Freiluftreitanlage. Nur das Sandsteinportal der spätbarocken Architektur überlebte, wurde 1974 – nach erklärungsbedürftigem Verlorengehen – am Rand der Zentralmensa im Unicampus wiederaufgestellt.

An den alten Reitstall, dessen von Göt­tin­ge­r:in­nen geforderten Erhalt und die verpasste Chance daraus nicht längst eine Ausstellungshalle für zeitgenössische Kunst gemacht zu haben, erinnerte jetzt der Verleger, Drucker und Sammler Gerhard Steidl. Anlass war, dass der von ihm initiierte Neubau eines Kunsthauses nun für Be­su­che­r:in­nen eröffnen durfte. Das Gebäude war bereits Ende 2020 fertiggestellt, wurde im März vom Bauherrn und Betreiber, der Stadt Göttingen, offiziell an die inhaltlich und organisatorisch Verantwortlichen übergeben: Neben Steidl ist das die ehemalige Leiterin der fotografischen Abteilung im Folkwang-Museum Essen, Ute Eskildsen, als Kuratorin.

Die Räume wurden mit einem ersten „Testlauf“ bespielt: einem kleinen, dann nicht öffentlich zugänglichen Ausstellungsformat; auch zukünftig will man solche Experimentierfelder für neue künstlerische Formen zwischen größere Einzel- oder Themenpräsentationen schalten.

Zu sehen gewesen wären Druckbögen und Buchdummies zu einer Publikation des französischen Fotografen Gilles Peress. Sie thematisierten Beziehungen zwischen Druckwerk und Ausstellung, letztere laut Peress eine „großräumige Form des Buches“. Die dazugehörigen zwei Leinenbände mit 1.295 Fotografien aus dem nordirischen Bürgerkrieg, die Peress ab 1972 fertigte und Jahrzehnte unter Verschluss hielt, dazu ein Text- und Bildessay als dritter Teil, sind gerade erschienen. Wieder ein sogenanntes Multiple, ein mit Schuber, Verpackung und – in diesem Fall – einer Tragetasche durchkomponiertes Buchobjekt: das bibliophile Markenzeichen Steidls.

Eine Passion für langwierige Projekte

Langwierigen, mit viel Geduld vorangetriebenen Vorhaben gilt also die Passion Steidls. Über Jahrzehnte gewachsen ist so auch die Liste an internationaler Kunst, Fotografie und Literatur, die vertrauensvoll ihre Druckwerke in seine Hände legt, seit der 1950 in Göttingen Geborene 1969, gleich nach dem Abitur, seine Werkstatt gründete. Zu den ersten Auftraggebern zählte Joseph Beuys. Steidl erzählt, wie er 1972 täglich zur documenta 5 nach Kassel fuhr, dort die Soziale Plastik Beuys’, das „Büro der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“, unterstützte und dokumentierte. Das erste Buch Steidls erschien: „Befragung der documenta“.

Bekannt ist auch die lange Arbeitsfreundschaft zum 2019 verstorbenen Karl Lagerfeld: Dessen professionell betriebene Fotografie brachte Steidl in Buchform, der Modeschöpfer revanchierte sich – mit dem lu­krativen Auftrag für sämtliche Drucksachen des Hauses Chanel.

Auch das Kunsthaus benötigte einen langen Atem, wenn man will, fast ein halbes Jahrhundert: Immer wieder fanden sich Verbündete in Stadt und Politik, etwa der im letzten Jahr verstorbene Bundestagsvizepräsident und Göttinger Direktmandatsträger Thomas Oppermann. Aber alle Konkretisierungen verzögerten sich. 2008 etwa stellte Steidl mit dem damaligen Oberbürgermeister eine Machbarkeitsstudie für ein Kunstquartier, kurz „KuQua“, im städtebaulichen Kontext seines Verlagshauses vor; die Finanzierung sollte eine öffentlich-private Partnerschaft sichern. Dort, wo jetzt das Kunsthaus steht, fristete damals allerdings noch ein Fachwerkgerippe sein Dasein, an dem herumgewerkelt wurde, so dass die Schar internationaler Baukünstler – darunter Herzog & de Meuron, Norman Foster oder David Chipperfield –, die Steidl als Architekten ins Gespräch brachte, eher irritierte denn nachhaltig beeindruckte.

Das Ganze nahm ab 2014, nun eine Nummer kleiner, einen neuen Anlauf: Göttingen erhielt 4,5 Millionen Euro aus dem Bundesprogramm „Nationale Projekte des Städtebaus“ und damit einen wesentlichen Teil der veranschlagten Baukosten – Geld allerdings, das zeitnah ausgegeben werden musste, um nicht zu verfallen. 2016 erbrachte dann ein beschränkter Architekturwettbewerb ohne Weltstars, das realisierte Ergebnis der Architekten Silvia Schellenberg-Thaut und Sebastian Thaut, Atelier ST aus Leipzig.

Schroff steht da nun der zur öffentlichen Straßenseite fensterlose, viergeschossige und beige-golden monochrome Bau mit hohem Spitzdach. Wer Böses will, liest darin eine Interpretation der Adresse: Düstere Straße 7. Die hermetische Baugestalt ist der Aufgabe als Ausstellungshaus für Arbeiten auf Papier, für Fotografie und neue Medien geschuldet: Sind ja allesamt wenig tageslichttaugliche Exponate. Je ein schmales, verdunkelbares Fenster zum rückwärtigen Innenhof ermöglicht auf jeder der drei Ausstellungsebenen den Blick hinaus, im Dachgeschoss schwelgt dann ein Multifunktionsraum mit eingeschnittener Terrasse in üppigem Naturlicht.

Ein Haus für tageslichtscheue Exponate: fensterarm zeigt sich der Bau zur Straße hin Foto: Foto:Simone Bossi

Beeindruckende Setzungen

Neben dem Neubau steht ein winziges, durch Steidl aufgepäppeltes Fachwerkhaus aus dem 14. Jahrhundert: das Archiv von Nobelpreisträger Günter Grass, dessen weltweite Verlagsrechte Steidl seit 1993 hält. Daneben wiederum liegt der Verlagssitz, die Werkstätten strecken sich in die Tiefen des Hofes. Dort wurde ein ehemaliger Spielplatz gestalterisch aufgewertet, Ende August übergibt man den Pavillon des US-amerikanischen Künstlers Jim Dine der Öffentlichkeit: Sein „House of Words“ ist eine Totalinstallation aus Textfragmenten, der übergroßen Kopfskulptur des Künstlers sowie beschwingter Frauenfiguren, gehauen aus alter Eiche.

Das alles beeindruckt in seinen wohlüberlegten städtebaulichen, ästhetischen wie intellektuellen Setzungen. Kein Zweifel: Das Kunsthaus wird Göttingen guttun, ist die Universitätsstadt nicht eben üppig verwöhnt mit Angeboten zur Gegenwartskunst: Es wird auch überregionales Publikum erreichen, und der Eintritt bleibt kostenfrei. Die Eröffnungsausstellung mit fotografischen Selbstporträts, Collagen und Büchern des Verlagssortiments von der New Yorkerin Roni Horn – bis 8. August – bezeugt die international wie prominent ausgerichtete Programmatik, die feinen Arbeiten fügen sich passgenau in die eher kleinen Ausstellungsräume und ihre gedämpfte Atmosphäre; Horns Video-Lesung zum Wasser läuft im lichten Dachgeschoss. Während des ersten Ausstellungsjahres dauerhaft zu sehen sein wird die Videoprojektion „Neue Räume“ von Sebastian Stumpf: eine künstlerische Begleitung des werdenden Kunsthauses.

Man verlässt diesen Göttinger Kosmos des Gerhard Steidl aber mit einer gewissen Beklemmung: zu edel, zu angestrengt und widerspruchsfrei, zu pathetisch, ja fast heiligsprechend kommen einem all diese Ambitionen vor – und merkwürdig aus der Zeit gefallen. Eine heruntergekommene, alte Reithalle wäre dann vielleicht doch die aufregendere Lösung für ein Kunsthaus geworden.

www.kunsthaus-goettingen.de