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Büsche, hohes Gras und Zäune

Die lakonische Bildsprache der südafrikanischen Fotografin Jo Ractliffe ist nun in der Buch-Retrospektive „Photographs 1980s – now“ zu begutachten

Jo Ractliffe: „On the road to Cuito Cuanavale II“ (2009) Foto: aus dem besprochenen Band

Von Thomas Winkler

Die Fotografien von Jo Ractliffe sind auf den ersten Blick eine Enttäuschung. Sie sind nicht spektakulär, nicht eingängig. Sie bilden oft nicht das ab, was sie zeigen wollen. Sie machen es den Betrachtern nicht leicht. Die Bilder der südafrikanischen Fotografin sind unsicher tastend, eher Spurensuche als Fundstück. Und doch erzählen sie viel über die Geschichte ihrer Heimat, das wird umso deutlicher in den nahezu 300 Fotografien, die in dem üppigen Band „Photographs 1980s – now“ versammelt sind.

Ein Beispiel: 1999 reist Ractliffe nach Vlakplaas. Auf der Farm westlich von Pretoria befand sich zu Apartheidzeiten das Hauptquartier der Polizeieinheit C1, einer im Geheimen operierenden Todesschwadron. Tausende wurden hier gefoltert und ermordet, nach dem Ende der Apartheid 1993 wurden Massengräber entdeckt. All das ist auf Ractliffes Fotos nicht zu sehen. Stattdessen: Büsche und hohes Gras, Geländer und Maschendrahtzäune, noch mehr Gras, Bäume, verwaschenes Schwarzweiß, unscheinbar. Ractliffe hat aus dem Auto heraus fotografiert, die Serie heißt im Untertitel „drive-by shooting“ und erinnert eher an Bilder, die Fotoamateure von einer Spritztour übers flache Land mitbringen würden. Das Grauen ist nicht zu sehen, weil es nicht zu sehen ist. Das Fazit ist umso grausamer: Die Vergangenheit ist vergangen, nichts erinnert mehr an die Opfer, aber nichts ist vergessen. So ist es oft mit den Fotos der 1961 in Kapstadt geborenen Ractliffe. In „Nadir“, einer ihrer berühmtesten Serien aus den achtziger Jahren, sieht man karge, menschenfeindliche Landschaften, in denen in einem bösartig kontrastreichen Schwarzweiß wenige zivilisatorische Überreste zu sehen sind, Ölfässer, ein Unterstand aus Holz, Autoreifen. Das einzige Leben, das durch diese postapokalyptischen Szenerien streift, sind herrenlose Hunde – die wiederum ein Symbol für die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerungsmehrheit sind, weil sie dazu dienten, Protestierende zu jagen.

Dramatisierende Montage

Ractliffe hat sich dabei nicht auf die klassische Landschaftsfotografie beschränkt, sondern die Bilder durch Montage dramatisiert und vorsichtig nachkoloriert. Das Artifizielle verstärkt einerseits die dystopische Aussage der Bilder, schafft andererseits aber auch einen Abstand, der die Hoffnungslosigkeit leichter erträglich macht. „Ich war enttäuscht von meinen Fotos“, schreibt Ractliffe selbst im Buch über ihre ersten Jahre als Fotografin, „sie schienen irgendwie für sich, losgelöst von den sie umgebenden Ereignissen.“ Ja, aber eben genau das ist ihre Qualität: Ractliffes Fotoessays werfen einen Blick hinter das Offensichtliche, gerade weil sie nicht verzweifelt versuchen, eine Wahrheit aufzuspüren, die es eh nicht geben kann. Sie sind im besten Sinne dokumentarisch, weil sie keine Botschaft festschreiben, sondern das Jetzt zeigen – eben bisweilen auch in seiner ganzen Belanglosigkeit. Für Okwui Enwezor war sie deshalb „eine der versiertesten und unterschätztesten Fo­to­gra­f*in­nen ihrer Generation“.

Herrenlose Hunde streifen durch postapokalyptische Szenerien

Eine Fotografin allerdings, die Probleme hat, das zu fotografieren, was das scheinbar naheliegendste Subjekt der Fotografie ist: Menschen. Ihre Porträtversuche waren, so Ractliffe, „für beide Seiten selten eine befriedigende Erfahrung“. Doch Ractliffe ist eine Fotografin, die Seelenzustände auch in menschenleeren Tableaus von wüsten Landschaften aufzeigen kann, in die sich nur selten Tiere, ein Esel oder eine Kuh, als letzte Botschafter des Lebens verirrt haben. Das wird besonders deutlich in den Serien, in denen Ractliffe in den nuller Jahren in Angola versucht, die Folgen des Unabhängigkeits- und anschließenden Bürgerkriegs zu dokumentieren, in den auch das Apartheidregime involviert war. Sie war interessiert, schreibt sie, die Landschaft pathologisch zu erforschen, „als Ort von Zeugnis und Trauma“. Und tatsächlich: In den sonnendurchfluteten Schwarzweißaufnahmen von verlassenen Startbahnen, bröckelnden Wandbildern und aus Fundstücken zusammengeschraubten Gedenkstätten mitten im Nichts sind nicht einmal die Landminen zu sehen, die noch die manifesteste Hinterlassenschaft des jahrzehntelangen Stellvertreterkrieges sind. Zu erkennen ist nur Leere, auf deren Grund aber Trauer und Verlust schimmern. Erst als sich Ractliffe in den zehner Jahren aufmacht, die Folgen, die der angolanische Krieg in Südafrika selbst hatte, zu fotografieren, rückt sie wieder Menschen ins Bild. Ractliffe wollte Einwohner des von Zwangsumsiedelungen und anderer Gewalt geschundenen Grenzlandes nicht ein zweites Mal von ihrem Land vertreiben. Zu sehen, wie das Leben sich nun erneut Raum verschafft in der moralischen Einöde, zu sehen, wie Menschen tanzen, heiraten und der Vergangenheit gedenken, ist ein schönes Symbol für den schwierigen, aber nicht hoffnungslosen Neuanfang der Regenbogennation.

Diese Geschichte, von den dunklen Abgründen der Apartheid über den Kampf gegen die Unterdrückung bis zum Aufbruch in eine ungewisse Zukunft, hat Jo Ractliffe, das ist das Fazit dieser Retrospektive, nicht fotografiert. Aber sie hat sich eingeschrieben in ihre Fotografien, selbst in die das Buch beschließenden Outtakes. Unter dem Titel „Everything Is Everything“ sind Fotos zusammengefasst, die am Rande der eigentlichen fotografischen Arbeit oder im Privaten entstanden sind und die eine andere Fotografin enthüllen. Eine, die einen nicht sezierenden, freundlichen, sogar hoffnungsspendenden Blick auf ihre Umgebung wirft und, ja, ­gerade Menschen und ihr Menschsein in Szene setzen kann. Auch diese Bilder erzählen ungemein viel von Südafrika, aber aus einer ganz anderen Perspektive.

Jo Ractliffe: „Photographs 1980s – now“, Steidl Verlag, Göttingen, 2020, 470 Seiten, 95 Euro

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