Berliner Opernhäuser sind live zurück: Arien mit Abstand
Alle drei Berliner Opernhäuser spielen wieder live. Im Angebot: Premieren für Johann Strauss, Richard Wagner und Giacomo Puccini.
Die Zeit heilt Wunden, heißt es, und tatsächlich ist es nach acht Monaten Zwangspause schön, in die Staatsoper Unter den Linden zurückzukehren. Der große Saal protzt immer noch mit dem Stuck aus dem Zentralkomitee der SED. Und wenn man in der Pause auf Terrasse und Freitreppen vor den sogenannten Apollosaal tritt, fällt der Blick nun auch noch auf eine Fassade, die mit einem massiven Abschluss aus Beton sofort anzeigt, dass das ganze mutmaßliche Gebäude dahinter ebenfalls eine Fälschung ist.
Früher war hier wenigstens mit dem Palast der Republik ein echtes Baudenkmal der DDR zu sehen, das weit mehr über die Geschichte der Berliner Mitte erzählen könnte als die Attrappe des Hohenzollernschlosses.
Furchtbar, aber alles ist verziehen, wenn die Staatskapelle spielt und man sie hören kann, unmittelbar und ohne Streamingfilter. Es ist elementar. Sie spielt „La Fanciulla del West“ von Giacomo Puccini, 1910 uraufgeführt in New York, dirigiert von Arturo Toscanini mit Enrico Caruso in einer der drei Hauptrollen. Legenden allesamt, trotzdem wird das Werk nur noch selten gespielt, an der Berliner Staatsoper war es am Sonntag sogar zum ersten Mal überhaupt zu hören.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Puccini hatte sich in New York die Aufführung eines damals sehr populären Theaterstücks angesehen. Er verstand nur wenig Englisch, war aber begeistert vom sozialen Realismus des kalifornischen Autors David Belasco. In einem Lager der Goldgräber führt eine junge Frau die einzige Kneipe. Die Sitten sind rau, Schlägereien und Lynchmorde sind normal, die Schankwirtin versucht die Männern mit Bibelstunden zu zähmen, was ihr sogar gelingt. Sie selbst wird von allen begehrt, aber auch geachtet.
Der Rest ist vorhersehbar
Der Sheriff möchte sie heiraten. Doch es ist der mexikanische Bandit, den er aufhängen will, der die Wirtin zum Tanz verführt. Der Rest ist vorhersehbar. Puccini jedenfalls hatte genug gesehen. Er war sofort entschlossen, sein ewiges Thema, die tragische Liebe zwischen Mann und Frau, nun auch im kalifornischen Goldrausch durchzuspielen. Im japanischen Dekor der „Madame Butterfly“ war ihm das ja auch glänzend und nachhaltig bis heute gelungen.
Es ging gut los in New York, aber auch dort bröckelte die anfängliche Begeisterung des Publikums schon bald. In Europa herrschte Kopfschütteln vor. In der Staatsoper ist zu hören, warum. Puccinis Musik passt nicht zum Naturalismus des Textes. Sie ist expressiv, schroff, dissonant, kühn und überraschend instrumentiert.
Man hört ständig „Turandot“ voraus, das Spätwerk mit seiner neusachlichen Modernität. Das wenig plausible Schauerdrama um Liebe, Hoffnung und Erlösung unter sentimental gewalttätigen Männern geht darin unter. Übrig bleibt eine Musik, die ständig über das Ziel hinausschießt und deswegen extrem schwierig zu interpretieren ist.
Zum Glück sind wir in der Staatsoper: Anja Kampe singt die bibelfeste Wirtin, Michael Volle den spielsüchtigen Sheriff und Marcello Álvarez den Banditen. Besser geht es wohl nicht. Sicherer Wohlklang in allen Lagen, auch den extremen, dramatisch kontrolliertes Zusammenspiel mit dem Orchester.
Pappanos entschlossenes und klares Dirigat
Antonio Pappano dirigiert entschlossen und klar, forciert damit allerdings die harten Kontraste manchmal so sehr, dass die komplexeren Zwischentöne der Partitur darunter leiden. Zu hören sind sie trotzdem und machen das unbekannte Werk zur großen Oper, das es dann aber doch nicht sein kann, weil auch die Regisseurin Lydia Steier an seinem inneren Widerspruch scheitert.
Sie, selber Amerikanerin, hält sich an den Text, den sie sehr ernst nimmt als Sozialdrama in seiner Zeit. Es wird geschossen und gehängt, geprügelt und betrogen, weil halt auch Männer nur Menschen sind. Ihr Bühnenbildner David Zinn versucht mit Videostreams von Sonnenuntergängen und Wolkenhimmeln, Leuchtreklamen und Pin-up-Sex ein wenig mittelwestliche Gegenwart zu simulieren.
Es sieht sehr gut aus, kann die historischen Grenzen des Stoffes aber nicht überwinden: bunte Bilder für einen Abendspaziergang zurück in die Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts.
Das ist pandemisch glücklicherweise ja wieder erlaubt. Die Hygiene-Abstandsregeln haben indessen eine ästhetische Dimension. Es empfiehlt sich sehr, auch zu den Werken Abstand zu halten, die jetzt wieder gespielt werden können. Schon am Sonntag vor einer Woche hatte in Berlin die Komische Oper damit angefangen. Tobias Kratzer nahm das Z-Wort im „Zigeunerbaron“ zum Anlass, Abstand zu nehmen von Johann Strauss.
Nur die Operettenseligkeit war dahin
Das Ergebnis war überraschend. Strauss wird besser, weil plötzlich zu hören ist, wie auch er mit einer Welt gehadert hatte, in der Zigeuner ein Dreck sind. Nur die Operettenseligkeit war dahin, die vor dem Lockdown alles entschuldigt hatte, was heute nicht mehr zu entschuldigen ist.
Es war anstrengend, nachzudenken statt zu schunkeln, am Samstag danach war es in der Deutschen Oper umgekehrt: Man konnte über Richard Wagner lachen, fröhlich und mit offenen Ohren für seine Musik, die Freunde wie Gegner niemals kalt lässt. Stefan Herheim inszeniert den „Ring des Nibelungen“. Zu sehen war davon bisher nur eine „Walküre“ mit rätselhaften Requisiten und Figuren aus dem „Rheingold“, das Corona zum Opfer gefallen war.
Jetzt ist es zu sehen und man versteht alles. Ein Konzertflügel steht auf der Bühne. Männer und Frauen in abgetragenen Kleidern kommen herein. Sie tragen schwer an großen Koffern. Einer bleibt am Flügel stehen und schlägt einen tiefen Ton an: Es. Die anderen treten an die Rampe und beginnen sich zu wiegen. Sie sind der Rhein.
„Genial“ ist das einzige Wort, das dazu passt. Natürlich lässt Donnald Runnicles dazu den berühmten, endlosen Es-Dur-Akkord spielen, aber da raunt kein Mythos mehr. Es ist ein Spiel von Leuten auf der Wanderung. Es gibt Götter, Nymphen, Riesen, Zwerge, Helden und schöne Frauen. Immer wieder darf jemand in die Tasten des Flügels greifen und ein wenig Wagner sein, dem die Welt nicht genug war. Sein Wotan selbst wird bald auch nur ein Wanderer sein wie alle bei Herheim.
Alles geht in Flammen auf
Sie bauen sich Luftschlösser, um sich besser an die Wäsche gehen zu können. Alles wird in Flammen aufgehen, weil sie komisch sind im vollen Sinn des Wortes, nämlich traurig darüber, dass alles nur ein Schein ist. Aber wenigstens ein schöner, der so gut klingt wie Wagners Musik.
Etwas wirklich Großes scheint da zu entstehen, eine Inszenierung des Abstands nämlich. Wagner wird gewinnen, weil Herheim uns zwingt, nicht seinen mal kindlichen, mal reaktionären und rassistischen Botschaften zu glauben, sondern sie zu verstehen. Die Deutsche Oper sorgt bisher mit Orchester, Chor und ausnahmslos hervorragend besetzen Rollen dafür, dass das sehr viel Spaß macht. Weil es halt Kunst ist, was sonst?
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