Pause von Polit-Talk „Anne Will“: Morde im Wahlsommer
Wenn Deutschlands beliebtester Polit-Talk „Anne Will“ demnächst pausiert, laufen an seiner Stelle Krimis. Politik schiebt die ARD in die Nacht.
Am 4. Januar 1998 gab es in der ARD eine Zeitenwende. Da lief nämlich im Ersten Programm zum ersten Mal die Polit-Talkshow „Sabine Christiansen“. Das war zwar nicht die erste Sendung ihrer Art im deutschen Fernsehen – aber es war die Sendung, mit der die, jetzt mal wertfrei gesagt: Erfolgsgeschichte des Polittalk-Formats ihren Lauf nahm. Heute schaut man am Sonntagabend an diesem Platz „Anne Will“, die beliebteste deutsche Polit-Talkshow.
Die Kehrseite: Mit dem neuen Talk-Format begann auch ein Zurückdrängen der Kulturberichterstattung am Sonntagabend. Vor „Christiansen“ lief nach dem „Tatort“ um 21.45 Uhr noch der „Kulturreport“, der „Kulturweltspiegel“ und „ttt – titel, thesen, temperamente“, für die einige Jahre mit „ttt“ ein gemeinsames Label geschaffen werden sollte.
Seit Ende 2003 beginnt das sonntägliche Kulturmagazin in der Regel nach den „Tagesthemen“, also erst um 23 Uhr. Dazu kommt für die „ttt“-Macher*innen ein weiteres Problem: Es gibt zu viele Ausnahmen von der Regel – vor allem im Sommer.
Wenn „Will“, wie demnächst, in die Sommerpause geht, wird die ARD an ihrer Stelle internationale Krimis zeigen, die mindestens 30 Minuten länger dauern als eine Will-Sendung. Dadurch verschiebt sich der Start des „ttt“-Magazins erneut: auf 23.35 Uhr, bei Krimis mit Überlänge kann es sogar noch später werden. Die Sendung, die normalerweise ein Millionenpublikum erreicht – 1,106 Millionen waren es 2020 im Schnitt – wird dann erfahrungsgemäß mehrere Hunderttausend Zuschauer*innen verlieren.
Gewohnheiten ignoriert
In diesem Jahr schmerzt das vielleicht noch mehr als sonst, denn „Anne Will“ pausiert relativ lange. Am 6. Juni talkt sie zum letzten Mal, erst am 29. August kehrt sie aus ihren Betriebsferien zurück. Zum Vergleich: Markus Lanz verabschiedet sich in diesem Sommer für nur zwei Wochen – angesichts des Super-Superwahltags am 26. September keine verkehrte Entscheidung.
Der zweite Leidtragende des Krimis um 21.45 Uhr sind die „Tagesthemen“, die ebenfalls nach hinten wandern. Zwei eigenproduzierte Sendungen, die zudem für öffentlich-rechtliche Kernkompetenz stehen, werden also im Sommer das Nachsehen haben – zugunsten gekaufter Krimiware. Dabei ist das Publikum es gewohnt, um 21.45 Uhr Politisches geliefert zu bekommen.
Die neue ARD-Programmdirektorin, Christine Strobl, sagt dazu auf Anfrage: „Die Filme, die wir am Sonntag um 21.45 Uhr auch in Erstausstrahlung zeigen, sind ein attraktives, beliebtes Programmangebot. Wir platzieren sie bewusst in den Parlamentsferien. Unseren Informationsauftrag nehmen wir selbstverständlich auch im Sommer umfassend wahr und berichten in unseren Nachrichtensendungen und -angeboten linear und nonlinear rund um die Uhr über alles, was in der Welt, in Deutschland und in der Region passiert. Auch der,Presseclub' greift in der Sommerpause durchgehend aktuelle Themen auf und diskutiert sie mit Journalisten.“
Die Reaktionsfähigkeit der ARD-Anstalten, fügt Strobl hinzu, sei auch im Sommer keineswegs eingeschränkt: „Unvorhergesehene Ereignisse von besonderer Bedeutung bilden wir entsprechend und je nach Lage in Sonderanstrengungen ab, das kann dann auch in Talkform sein.“
„Mit Spitzenunterwäsche erstickt“
Dennoch stellt sich die Frage, ob die „Krimi first“-Lösung adäquat ist in politisch besonders aufgeladenen und debattenreichen Zeiten. Auch die krimibedingte Marginalisierung einer Sendung wie „ttt“ wirkt wenig zeitgemäß. Es gibt derzeit ja durchaus genügend „klassische“ Kulturmagazinthemen, die gesellschaftlich relevant sind: der Cancel-Culture-Mythos, Geschlechtergerechtkeit, Gendersternchen-Debatte, Raubkunst und Kolonialismusaufarbeitung, um nur einige Beispiele zu nennen.
Gibt es für 2022 Pläne, von der aktuell geltenden Praxis (ein mindestens 90-minütiger Krimi um 21.45 Uhr) abzuweichen? Dazu sagt Christine Strobl: „Eine konkrete Programmplanung für den Sommer 2022 gibt es noch nicht.“ Was nachvollziehbar ist, zumal Strobl ihren Job ja erst am 1. Mai angetreten hat. Andererseits: Die an „ttt“beteiligten Redaktionen haben 2019 bereits intern einen Lösungsvorschlag formuliert. Demnach sollen in der „Will“-freien Zeit um 21.45 Uhr die „Tagesthemen“ laufen, dann „ttt“ – und der Krimi erst hinterher.
An Anne Wills erstem freien Sonntag zeigt die ARD Spiele der Fußball-EM. Der erste Talkersatz-Krimi dieses Jahres läuft dann am 20. Juni. Es handelt sich um einen Film aus der Reihe „Brokenwood – Mord in Neuseeland“. Was da passiert? Laut ARD-Programmankündigung wird „der langjährige Trainer des Rugbyteams von Brokenwood“, mit „Spitzenunterwäsche“ erstickt, „man findet ihn nackt an einen Torpfosten gefesselt“.
Es spricht ja grundsätzlich nichts dagegen, dass die ARD ihren Zuschauern einen Einblick in das Krimischaffen in anderen Weltregionen bietet. Aber dass statt öffentlich-rechtlichem Journalismus ein Krimi über eine aus deutscher Sicht eher periphere Sportart gezeigt wird, wirkt dann doch etwas grotesk.
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