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: So viel Action war selten

Immer wieder lese ich, wie Menschen sich seit Pandemiebeginn langweilen oder unter ihren gleichförmigen Tagesabläufen leiden. Sie müssen aufregende Leben geführt haben vor Corona. Im Gegensatz zu mir, deren Alltag damals wie heute aus so banalen Dingen wie Arbeiten, Teenagerbändigen, Haushalt, Sport und dergleichen besteht. Ja, auch ich vermisse soziale Kontakte. Aber über Langeweile kann ich trotzdem nicht klagen.

Gerade war wieder so ein Tag. Der erste Adrenalinkick kommt noch vorm Aufstehen. Um Viertel nach sieben reißt mich ein Anruf aus dem Tiefschlaf. Es ist das Impfzentrum, bei dem ich auf der Warteliste stehe. Ob ich für kommende Woche einen Impftermin wolle? Normalerweise brauche ich morgens lange zum Wachwerden. Jetzt geht das innerhalb von Sekunden. „Einen Termin? Nächste Woche? Klar will ich den!“ Und weil ich jetzt eh wach bin, kann ich auch früher als nötig zur Arbeit.

Dort erst mal einen Coronaschnelltest machen. Auch immer so ein Spannungsmoment, wenn sich das Sichtfeld langsam mit Farbe füllt. Negativ! Damit könnte ich jetzt theoretisch … Kurze Rücksprache mit den Kol­le­g*in­nen: Gerade ist wenig zu tun, ich darf noch mal weg. Das ist gut, denn ich brauche unbedingt eine Jeans. Schneller Blick ins Internet: „Für einen Besuch in unserer Filiale wird ein negativer Coronatest oder ein Impfpass als Nachweis für die 2. Corona-Impfung benötigt“, schreibt das Kaufhaus. Alles klar.

Wie spannend, ich geh shoppen! Mein letzter Besuch in dem Laden liegt Monate zurück. Wenig später stehe ich vorm Eingang und überlege, an welche der Schlangen ich mich anstellen muss. Männer in roten Pullis regeln den Einlass. „Haben Sie einen Termin?“, fragt mich einer von ihnen. Hab ich nicht.

Nachdem er mir das Prozedere erklärt hat, krame ich mein Tastentelefon raus. Mit dem kann ich zwar weder Codes scannen noch Apps runterladen, wie der Mann mir vorschlägt. Aber telefonieren. Theoretisch. Denn direkt neben dem Ladeneingang spielt jemand Dudelsack. Ich brülle gegen die Musik an. Dann höre ich eine nette weibliche Stimme sagen: „Bis gleich.“ Kurz darauf bin ich drin.

Gleich hinter der Glastür sitzt eine Frau an einem Tisch und sagt gerade freundlich ins Telefon: „Bis gleich.“ Musste ich jetzt wirklich mit einer Frau telefonieren, die keine drei Meter von mir entfernt war? Drinnen ist es warm. Und laut, denn überall wird gebaut. „Ihre Gesundheit liegt uns am Herzen“, tönt es alle paar Minuten über Lautsprecher, deswegen sei Maskenpflicht. Meiner Gesundheit wäre es sicher zuträglicher, wenn ich hier nicht mit Winterjacke rumrennen müsste. Und sie die Musik etwas runterdrehen würden.

Zurück im Büro zieh ich mir die neuen Klamotten an. Das verleiht dem Tag ganz neuen Glanz. Dann ruft die Kollegin an, aus dem Homeoffice. „Hast du schon gehört, dass Jour­na­lis­t*in­nen sich ab nächster Woche impfen lassen können?“, fragt sie aufgeregt.

Weil ich ja erst mittags angefangen habe, bleib ich abends länger. Endlich kann ich mal in Ruhe meine lange To-do-Liste abarbeiten. Gegen zehn radle ich nach Hause. Es ist Ausgangssperre, ich darf nur spazieren gehen und joggen. Was wohl passiert, wenn mich die Polizei anhält? Wieder so ein Nervenkitzel. Aber alles geht glatt. Ganz ehrlich, so viel Action an einem Tag hatte ich früher selten. Gaby Coldewey