Osman Engin Die Coronachroniken: Corona-Impfstoff gegen Inkontinenz
Osman Engin ist Satiriker in Bremen. Zu hören gibt es seine Kolumnen unter https://wortart.lnk.to/Osman_Corona. Sein Longseller ist der Krimi „Tote essen keinen Döner“ (dtv).
Ich gehe nachts, wenn es dunkel wird, auf Menschenjagd. Genauer gesagt, ich jage nach Geflüchteten. Nein, nein, nein, ich bin kein Nazi! Ich jage keine Menschen aus Syrien oder Afrika, sondern ganz normale, waschechte Bremer. Na gut, so normal sind sie auch wieder nicht mehr, nach denen ich jage, was ihre geistige Verfassung betrifft.
Ich meine damit aber weder die durchgeknallten Querdenker, noch die ganzen AfD-Wähler. Bei uns in der Straße befindet sich neuerdings ein Altersheim: „Oase des Glücks“. Und deren Bewohner büxen sehr gerne aus. Nacht für Nacht liefere ich sie dann nach langer Verfolgungsjagd wieder in der „Oase des Alzheimers“ ab. So sitze ich nun um Mitternacht auf dem Balkon und halte nach seltsamen Gestalten Ausschau.
Hoffentlich muss ich heute nicht raus – so wie dieser Opa da. Wo kommt er denn plötzlich her? Ich flitze sofort nach unten. Er hat mich entdeckt und wird schneller und schneller – und ich hinter ihm her. Für Außenstehende könnte es vielleicht so aussehen, als würde ich einen armen, alten Mann verfolgen, um ihn auszurauben. Anscheinend denkt der Opa das auch! Alle paar Schritte schaut er panisch nach hinten und rennt schneller. Der alte Junge läuft den Marathon seines Lebens.
„Guter Mann, jetzt hetzen Sie doch nicht so! Ich tue Ihnen nichts“, starte ich eine Aufklärungskampagne, um den Mann vor einer Herzattacke zu schützen. Mich natürlich auch.
Seit mittlerweile 30 Minuten rennt er vor mir weg. Oder ich laufe ihm hinterher; kommt ganz drauf an, aus welchem Blickwinkel man das ganze unglückliche Geschehen betrachtet. Aus der Sicht der Polizisten, die gerade mit ihrem Wagen um die Ecke biegen, sehe ich bestimmt wie der typische, brutale Opa-Mörder aus.
„Ich tue Ihnen nichts. Bitte halten Sie endlich an“, flehe ich ihn an, der in seinen jungen Tagen mit Sicherheit ein sehr erfolgreicher Sprinter war.
„Aber nur, wenn Sie mich nicht im Heim abliefern! Ich will mir heute auf keinen Fall eine Coronaspritze stechen lassen“, schnauft er.
„So eine Spritze ist doch gut für Sie“, schnaufe ich zurück.
„Wenn Sie so scharf drauf sind, dann schenke ich Ihnen meine Spritze“, brüllt er.
Diese Gelegenheit lasse ich mir natürlich nicht entgehen und krempele fünf Stunden später als Opa Heinrich die Ärmel hoch. „Herr Engin, denken Sie ja nicht, ich hätte Sie mit Ihrer Maske nicht erkannt“, flüstert mir die Heimleiterin Ingrid ins Ohr.
„Danke, dass ich trotzdem geimpft werden durfte. Jetzt werde ich nicht mehr coronakrank“, freue ich mich.
„Nein, Sie werden nachts nicht mehr ins Bett pinkeln. Sie haben eine Spritze gegen Inkontinenz bekommen“, lacht sie.
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