35 Jahre nach Tschernobyl: Die konservierte Katastrophe
Als Tschernobyl geschah, war unser Autor noch nicht geboren. Politisch stark von Fukushima beeinflusst, reiste er in die kontaminierte Zone.
Im Mai 2019 stehe ich in der Zone um Tschernobyl. Ich bin mit einem Freund unterwegs, sieben Tage Urlaub in der Ukraine, fünf in Kiew, zwei in der Zone. Für uns ist das eine Bildungsreise, die Folgen des Atomunfalls interessieren uns schon lange. Hier sind wir nervöse Touristen.
Seit der US-Fernsehsender HBO eine Serie über die Katastrophe gedreht hat, boomt hier das Geschäft. Tourismus ist zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Region geworden. Busse fahren Tagesausflügler zum Reaktor.
Nur wir bleiben über Nacht, unsere Gruppe besteht aus mir, meinem Freund, zwei weiteren Touristen und einem lokalen Guide. Ich habe einen kleinen gelben Geigerzähler gemietet. In der Pension piepst er nicht, beruhigend. Abends wird ein Gericht mit Pilzen serviert, ich habe ein flaues Gefühl im Magen. Tagsüber erkunden wir die Zone, sehen die verlassene Stadt Pripyat, sprechen mit Zeitzeugen, die trotz allem noch in der Zone leben, essen mit den Arbeitern in der Kantine des versiegelten Reaktors.
Hier ist die Sowjetunion konserviert. Plünderer nahmen alles von Wert mit, Alltag blieb zwischen den Trümmern zurück. Kinderbetten, Puppen, Gasmasken, Schul- und Tagebücher, verlassene Sporthallen, ein Kino, ein kleiner Freizeitpark mit dem berühmten Riesenrad. Die Zeit ist irgendwie stehengeblieben.
Spürbare Veränderung
Als vor 35 Jahren, am 26. April 1986, im Atomkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine der Reaktorblock 4 explodierte, war ich noch nicht geboren. Die Katastrophe und ihre Auswirkungen sind noch immer messbar, die genauen Todeszahlen unbekannt, die WHO spricht von Tausenden möglichen Opfern, Atomkraftgegner sprechen von Hunderttausenden. Den Unfallort umspannt eine Zone mit einem Radius von 30 Kilometern, bis heute unbewohnbar.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Als 2011, da bin ich gerade 13 Jahre alt, in Fukushima die nächste Atomkatastrophe passiert, komme ich das erste Mal mit Politik in Berührung. Ein Atomunfall als politisches Erweckungserlebnis, klingt pathetisch. Aber plötzlich fallen mir die „Atomkraft? Nein Danke“-Aufkleber auf, überall in Baden-Württemberg, wo ich herkomme. Mit Winfried Kretschmann wird zwei Monate später erstmals ein grüner Ministerpräsident gewählt. Was das alles bedeutet, verstehe ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Aber ich spüre, dass sich etwas verändert. Die Bilder aus Japan, Atomausstieg, Diskussionen in der Schule und am Esstisch zu Hause.
Für unseren Tourguide ist Tschernobyl ein Zeichen der Unterdrückung und des russischen Imperialismus. „Und heute steht Moskau wieder in unserem Land.“ Es lässt ihn nicht los. Fast jede Woche führt er Touristen in die Zone, will sie aufklären. Seine Familie sorgt sich um seine Gesundheit.
Man hätte Tschernobyl verhindern können, erzählt er, jetzt sei es ein Mahnmal für die Gefahren ideologischer Verblendung der sozialistischen Sowjetunion. Doch auch in Fukushima konnte ein Unglück passieren, denke ich. Der atomaren Katastrophe ist das politische System egal.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation