Stefan Alberti hat bei den vielen neuen Coronalockerungen zwiespältige Gefühle
: Jetzt geht der Stress wieder los

Also am Freitag gleich um 7 Uhr zur Badöffnung schwimmen gehen, Samstag Open-Air-Kino, Sonntag soll irgendwo ein Freiluftkonzert sein, nach Pfingsten abends wieder Training im Verein, im Gropius-Bau gibt es eine Ausstellung, die Kinder kuratiert haben … Puh, wird das anstrengend, diese Coronalockerungen können einen auch überfluten. Vorbei die Tage, die mal nervig, mal angenehm gleichförmig-stressfrei strukturiert waren: Arbeit, Haushalt, Einkaufen und abends ein Bier aus dem Kühlschrank, dann spielen, lesen oder eine DVD gucken.

Nach den vom Senat beschlossenen oder für die nächsten vier Wochen in Aussicht gestellten Lockerungen kommt beim Schreiber dieser Zeilen diese Erinnerung an Kirchen- oder Katholikentagsbesuche früherer Jahre auf: Da gab es stets ein mehrere Zentimeter dickes Programmheft – „Programmbuch“ wäre angesichts des Formats passender gewesen –, das durchweg ein schlechtes Gewissen machen konnte: Nicht bei der Andacht um acht, dem Bibelgespräch um zehn, der Politdiskussion um zwölf, dem Arbeitskreis um vier und abends beim Open-Air-Konzert der norwegischen Spiritual-Gruppe gewesen?

Wer’s nicht so mit der Kirche hat, mag Ähnliches mal im Urlaub in einem Sportclub erlebt haben: Von „Hallo wach“ bei Sonnenaufgang über die Mountainbike-Tour und Bauch-Beine-Po am Pool bis zum Karaoke-Abend durchweg Programm. Mit einem Tischnachbarn, der einem im Zweifelsfall genau erzählt hat, was man alles verpasst hatte, was natürlich einmalig war und wahrscheinlich im ganzen Urlaub nicht wieder zu erleben sein werde.

Das ist nun natürlich alles ganz subjektiv, jeder und jede empfindet da individuell und mag im wieder auflebenden Berlin vielleicht noch gar nicht genug Angebote finden. Und natürlich ist es erst mal wunderbar, dass all die Kulturschaffenden, Bademeister und Biergartenwirte wieder auf der Bühne, am Beckenrand und am Zapfhahn stehen dürfen.

Aber so wie es ein harter Schlag und überaus gewöhnungsbedürftig war, als ab März 2020 plötzlich vieles wegfiel, was vorher den Tag füllte, so braucht im Kopf auch der Weg zurück seine Zeit. Einem Taucher, der ohne Dekompression aus der Tiefe an die Oberfläche schießt, kann die Lunge platzen – ohne verzögertes Auftauchen geht da gar nichts.

Insofern ist der Stufenplan des Senats mit der Idee, nicht alles gleichzeitig zu öffnen, sondern schrittweise, nicht nur pandemiemäßig – erst mal die Folgen abwarten – sinnig. Er ist als Nebeneffekt auch eine Wiedereingliederungshilfe in einen Alltag, der wieder deutlich vielschichtiger sein wird als in den vergangenen 15 Monaten.