die woche in berlin
: die woche in berlin

Was die Corona-Inzidenzzahlen mit dem Brettspiel „Mensch ärgere Dich nicht!“ zu tun haben, warum bessere Bezahlung in der Pflege am Ende allen nützt und warum der Gesetzentwurf der Initiative zur Enteignung großer Immobilienunternehmen vor allem bei der Unterschriftensammlung hilft

Inzidenz oder: „Mensch ärgere Dich nicht!“

Das Hickhack um die Zahl 100 erinnert an ein altes Brettspiel

Man kann es nicht mehr hören: Inzidenz, Inzidenz, Inzidenz. Immer mehr Freunde, Verwandte und Bekannte verfolgen längst keine Nachrichten mehr, weil sie nach 14 Monaten Pandemie die Schnauze voll haben von Corona, Corona, Corona. Der Autor selbst tut dies allerdings pflichtbewusst, um jobmäßig auf dem Laufenden zu bleiben. Denn der Inzidenzwert sorgte diese Woche in Berlin für Aufregung.

Dabei gab es vor über einer Woche hoffnungsfrohe Zeichen. Der Wert fiel am Freitag, dem 7. Mai, auf 98,6, und nur einen Tag später auf 97,0 – damit waren die Inzidenzwerte erstmals seit Langem unter die magische Marke von 100 gerutscht. Das setzte bei nicht wenigen Mitmenschen Glücksgefühle frei. Weil deutschlandweit die Zahlen permanent sanken, im Nachbarland Brandenburg ebenso (und dort sogar tiefer als bei uns), glaubten viele, dass es in Berlin so weiterginge. Aber denkste! Schon letzten Sonntag (9. Mai) kletterte der Wert auf 99,6 – und am Montag wurde er vom RKI dann mit 100,8 angegeben. Aus der Traum!

Dieser (ja letztlich willkürlich) festgelegte Schwellenwert von 100 ist fürs allgemeine Wohlbefinden immens wichtig geworden. Zur Erinnerung: Die Zahl gibt an, wie viele Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen erfasst wurden. Bliebe der Inzidenzwert fünf Tage in Folge unter 100, würde zwei Tage darauf die Notbremse des Bundes nicht mehr gelten und Lockerungen würden bei Ausgangssperren oder Kontaktbeschränkungen eintreten. Ebenso wäre endlich, von vielen Ber­li­ne­r:in­nen sehnlichst erwartet, Außengastronomie wieder möglich.

Doch mit dem Inzidenzwert von 100,8 hieß es: Zurück auf los. Weil die Zählung – fünf Tage in Folge – neu beginnen musste. Das fühlt sich an wie eine extrafiese Art des alten Gesellschaftsspiels „Mensch ärgere Dich nicht!“, bei dem man kurz vor dem Ziel von Mit­spie­le­r:in­nen einfach mal so aus dem Spiel geworfen werden kann.

Früher gab es hierzulande mal so etwas wie Kulanz. Darunter lässt sich das freiwillige Entgegenkommen (eigentlich im Geschäftsverkehr) verstehen, ohne dass es dafür eine rechtliche Pflicht geben würde. Irgendwie ist das aber aus der Mode gekommen.

Hätte man nicht, nach den langen Monaten der Pandemie (und es folgen ja noch etliche) Kulanz walten lassen können in diesem besonderen Fall? Es ging doch nur um 0,8 und einen einmaligen Ausrutscher nach oben in einer langen Reihe von sinkenden Inzidenzwerten in diesen Tagen.

Und der Wert fällt ja weiter, Tag für Tag. Am Mittwoch dieser Woche stand er laut Lagebericht des Senats bei 86, am Donnerstag bei 83,4 und am Freitag bei 72. Tendenz: weiter fallend. Na, hoffentlich. Denn das würde bedeuten, dass die ersten Lockerungen ab dem 19. Mai wirklich kommen können. Das aber hätten die arg gebeutelten Ber­li­ne­r:in­nen auch eine Woche früher verdient gehabt.

Andreas Hergeth

Pflegende, befreit die Chefetagen!

Krankenhausbeschäftigte treten in den Tarifkampf ein

Die Missstände sind groß: Überall kehren Pflegende ihrem Beruf den Rücken zu, weil sie die Arbeitsbedingungen nicht mehr aushalten. Vivantes, Berlins größter kommunaler Krankenhauskonzern, drückt sich systematisch um Tariflöhne, indem er Arbeit auf formal unabhängige Tochterfirmen ausgliedert. Die Beschäftigten von Charité und Vivantes wollen sich das nicht mehr bieten lassen. Sie organisieren sich nun gewerkschaftlich. Am Mittwoch trat die Berliner Krankenhausbewegung offiziell in den Tarifkampf ein.

Gerade in pandemischen Zeiten müsste es eigentlich der kleinste gemeinsame Nenner sein, die Krankenhausbewegung zu unterstützen. Wer könnte sich dagegen aussprechen, dass den Pflegenden, die tagtäglich Gott weiß wie viele Menschenleben retten, bessere Arbeitsbedingungen zustehen? Doch etwa die Vivantes-Klinikleitung wehrt sich vehement gegen die Forderungen der Beschäftigten. Warum? Ergötzen sich die Chefetagen am Leid ihres Personals? Sind sie blind gegenüber den Zuständen in ihren Krankenhäusern?

Nein, denn das Problem ist nicht moralisch, sondern systemisch. Auch die Klinikleitungen müssen sich fühlen, als würden sie zwischen zwei großen Rädern zermahlen: Einerseits ist da die Gewerkschaft, die fordert, was den Beschäftigten zusteht. Andererseits ist da aber die ökonomische Zwangsjacke, die jede Erleichterung verbietet. Das ist ein Spagat, den auszuhalten unmöglich ist – einfach weil es sich bei Gesundheit nicht um eine Ware handelt, die sich in ökonomische Kategorien pressen lässt.

Ein ökonomisiertes Gesundheitssystem wird nie in der Lage sein, die Pflege kranker Menschen angemessen zu vergüten. Doch indem die Beschäftigten jetzt auf ihre Macht als diejenigen verweisen, die das ganze Hamsterrad am Laufen halten, können sie konkrete Verbesserungen erzwingen. Konfrontiert mit der Macht der Solidarität müssen Klinikleitungen und Politik kreativ werden; und plötzlich wird das Unmögliche möglich, echte Veränderung kann entstehen.

Letztlich würden alle von einem besseren Gesundheitssystem profitieren, auch diejenigen, die sich jetzt dagegen wehren. Ganz nebenbei könnten auch Klinikleitungen und Politik vom Korsett der Gewinnorientierung erlöst werden. Krankenhausbeschäftigte, befreit die Chefetagen! Timm Kühn

Keine Enteignung zum Nulltarif

Enteignungsinitiative legt Gesetzentwurf vor

Die Ak­ti­vis­t:in­nen nehmen die Sorgen der Bür­ge­r:in­nen ernst. Niemand will, dass das Land Berlin 36 Milliarden Euro ausgibt, um Wohnungskonzerne zu enteignen – wenn Berlin hinterher das Geld für vieles andere fehlen würde, insbesondere für eine soziale Politik.

Deshalb hat das Team des Volksbegehrens Deutsche Wohnen & Co enteignen jetzt ein „Vergesellschaftungsgesetz“ vorgelegt, das niemand weh tun würde – außer den Wohnungskonzernen. Die Entschädigung wäre auf rund 10 Milliarden Euro begrenzt und müsste auch nicht in bar bezahlt werden, sondern in „Entschädigungsbonds“ mit einer Laufzeit von bis zu 40 Jahren. Die Tilgung würde aus den bis dahin eingenommenen Mieten erwirtschaftet.

Eine Superidee. So kann man kritische Fragen beim Unterschriftensammeln im Keim ersticken. Auswirkung der Enteignung auf öffentliche Haushalte? NULL!!!

Aber geht der Trick wirklich auf? Schwer zu sagen. Denn seit über 70 Jahren steht zwar die Möglichkeit zur Sozialisierung im Grundgesetz, aber es gab keinen einzigen Anwendungsfall. Deshalb musste auch das Bundesverfassungsgericht noch nie klären, welche Entschädigung dann zu zahlen wäre.

Klar ist nur: Der volle Marktwert müsste nicht erstattet werden. Schließlich heißt es im Grundgesetz: „Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen.“ Im Berliner Fall müsste das Land nach einem erfolgreichen Volksentscheid also keine 36 Milliarden Euro für die Enteignung einplanen.

Doch welchen Abschlag würde Karlsruhe noch akzeptieren? Falls das Land Berlin nur 10 Milliarden Euro Entschädigung zahlt, läge der Sozialrabatt immerhin bei 72 Prozent. Und möglicherweise ist die avisierte Entschädigung sogar noch weniger wert, da sie ja nicht bar, sondern in zinslosen Wertpapieren ausbezahlt wird. Wer weiß schon, wie sich der Kurs für solche Bonds entwickeln würde.

Was beim Unterschriftensammeln hilft, könnte vor dem Bundesverfassungsgericht also eher schaden. Die Vorstellung, dass das Land Berlin die Enteignung durchziehen könnte, ohne einen Cent in die Hand zu nehmen, wäre zwar für die Ber­li­ne­r:in­nen beruhigend, darin dürfte aber wohl nicht je­de:r die vom Grundgesetz geforderte „gerechte Abwägung der Interessen“ sehen.

Und dann würden die Rich­te­r:in­nen sicher auch auf den sozialen Nutzen der Enteignungen schauen. Zwar wären Mieten von 4 Euro pro Quadratmeter für die Be­woh­ne­r:in­nen der 240.000 betroffenen Wohnungen toll. Aber die Konzernwohnungen machen nur ein Achtel aller Berliner Wohnstätten aus. Und niemand weiß, wie viele dieser Mie­te­r:in­nen wirklich sozial bedürftig sind. Zugleich würden die Mieten im Rest der Stadt steigen wie gehabt. Noch wirkt die Initiative eher wie eine antikapitalistische Provokation als wie ein überzeugendes sozialpolitisches Konzept.

Allerdings ist der Gesetzentwurf auch gar nicht Gegenstand des Volksbegehrens. Dort geht es nur um eine unverbindliche Aufforderung an den Senat, er solle Maßnahmen zur Vergesellschaftung „einleiten“. Das heißt aber auch: Erst nach einem erfolgreichen Volksentscheid wird es um die konkreten, vermutlich deutlich höheren Entschädigungssummen gehen. Teuer wird es immer erst am Ende. Christian Rath

Seit über 70 Jahren steht zwar die Möglichkeit zur Sozialisierung im Grundgesetz, aber es gab keinen einzigen Anwendungsfall

Christian Rath über die Chancen des Gesetzentwurfs der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen