: Das gestohlene Jahr
Viele Kinder und Jugendliche leiden psychisch stark unter den Auswirkungen der Pandemie
Von Emmy Thume
Nach einem Jahr Pandemie wird langsam klar, wie sehr Kinder und Jugendliche psychisch unter der Situation leiden. Die Therapieplätze für Kinder und Jugendliche seien komplett ausgelastet, berichtet Gitta Tormin von der Psychotherapeutenkammer HamburgSeit Oktober 2020 hätten sich die Wartezeit auf einen dieser Plätze um drei Monate auf vier bis sechs Monate verlängert, mit steigender Tendenz.
Auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf verzeichnet erst jetzt, in der dritten Pandemiewelle, einen deutlich stärkeren Andrang von Kindern und Jugendlichen. Klinikdirektorin Carola Bindt erklärt dies mit der Aussichtslosigkeit, die der anhaltende Lockdown und die nicht endenden Infektionszahlen mit sich brächten. Der Freundeskreis vieler Kinder und Jugendlichen habe sich in den letzten Monaten verkleinert oder sei ganz weggebrochen.
Insbesondere Jugendliche würden darunter leiden, kein Zugehörigkeitsgefühl zu Gleichaltrigen aufbauen zu können – und das in einer Lebensphase, in der sie normalerweise sich selbst und ihren Platz in der Gesellschaft finden und sich ausprobieren wollten.
Pro Nacht kämen derzeit circa sechs Patient:innen zum psychiatrischen Notdienst des UKE, das sei deutlich mehr als in den letzten Monaten, sagt Bindt. Für die Nachbetreuung hätten sie ein Notfallteam eingerichtet, um überhaupt noch hinterher zu kommen.
Die häufigsten Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen seien derzeit Angststörungen und Depressionen. Es gebe auch Jugendliche mit Suizidgedanken, die keinen Ausweg mehr aus der Situation sähen, berichtet Christoph Möller, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Kinderkrankenhauses auf der Bult in Hannover.
In der Pandemie gebe es außer dem familiären Umfeld keinen Ort mehr, an dem Kinder und Jugendliche wahrgenommen werden könnten. Zuvor wären psychische Erkrankungen etwa oft in der Schule bemerkt worden.
Durch den Wegfall von Bezugspunkten außerhalb der Familie würden psychische Erkrankungen später oder gar nicht erkannt, sagt Möller. Gleichzeitig fielen Möglichkeiten der Kompensation, etwa sportliche Aktivitäten, gänzlich weg.
Carola Bindt vom Universitätsklinikum Eppendorf wünscht sich, dass Jugendliche, statt sie wegen gelegentlicher Verstöße gegen die Coronaregeln zu stigmatisieren, mit ihren Ängsten und ihrer Hoffnungslosigkeit besser verstanden werden.
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