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Mehr Zeit für Forschung

Recherchestipendien in der Pandemie: Die TakeCare-Residenzen an den Produktionshäusern für Puppen- und Objekttheater in Berlin und Stuttgart

Von Tom Mustroph

Die pandemiebedingte Schließung von Theatern hatte auch einen erfreulichen Nebeneffekt: Fördergelder wurden in Recherchestipendien und Residenzen umgewandelt, Residenzprogramme neu aufgelegt.

Wenn Zoomkacheln strahlen könnten, dann hätten die Video­konferenzen der TakeCare-Sti­pen­diat*in­nen der Berliner Schaubude und des Stuttgarter Fitz glattweg den Jahresbedarf an Strom für Scheinwerfer, Heizung und selbst den Kühlschrank an der Bar decken können. Ganz so schnell geht es mit der Verbesserung der Energie­bilanz zwar nicht, aber das Feedback der Teil­neh­me­r*in­nen der insgesamt 21 #TakeCareResidenzen im Figuren- und Objekttheater, die gemeinsam vom Fonds Darstellende Künste und dem Netzwerk flausen+ in den letzten Monaten aufgelegt worden waren, war durchweg positiv. Je 5.000 Euro erhielt jede Gruppe, Arbeitszeitraum waren zwei Monate. „Recherche gehört zwar auch sonst zu unseren Arbeitsprozessen dazu. Aber meist ist das nicht bezahlt. Es liegt im eigenen Interesse, dass man die Zeit findet und sich Zeiträume sucht zwischen Proben für anderen Stücken, Wiederaufnahmeproben und Vorstellungen“, so die Berliner Puppenspielerin Leonie Euler, die mit einer Untersuchung zur Beziehung zwischen Ritual und Theater an dem Programm teilnahm.

Jetzt gab es diese Zeit aber, und sie war sogar bezahlt. Das setzte Kräfte frei. Esther Falk, Figurenspielerin und Figurenbauerin aus Stuttgart, stürzte sich voller Vehemenz in das Thema Sexpuppen. „Das Thema ist mir eigentlich fremd. Der Vorschlag kam von einem Kollegen aus dem Team. Aber durch das Stipendium kam es mir dann in den Sinn, mich mit einem mir eigentlich fernliegenden Thema intensiver zu beschäftigen“, erzählte Falk. Sie begab sich in das Feld des Automatenbaus, recherchierte Männern hinterher, die ihre Einsamkeit durch ein Zusammenleben mit Puppen zumindest eindämmen wollen. Sie nahm Kontakt mit Sexpuppenanbietern auf und stieß auch auf ihre frühere Berufskollegin Hermine Moos. Die Künstlerin und Puppenbauerin fertigte für Oskar Kokoschka vor 100 Jahren eine lebensgroße Frauenfigur an – nach dem Vorbild von dessen verflossener Geliebter Alma Mahler.

Was Falk mit all den Rechercheergebnissen macht, weiß sie momentan noch nicht. Aber sie hat Material und Anregungen für gleich mehrere Projekte. „Die Stücke bekommen durch die umfassendere Recherche auch eine größere Tiefe“, beschrieb sie eine Hoffnung für die Zukunft.

Ähnliche Erfahrung machten auch andere Stipendiat*innen. „Die Residenz führte dazu, dass wir uns eines Themas annahmen, das wir bisher immer verschoben haben, für das keine Zeit war“, so Matthias Ludwig, Puppenspieler von flunker produktionen, die das Bandprojekt „Miaulina“ weiterentwickelten.

Die bezahlte Forschungsarbeit führte auch zu einer produktiveren Strukturierung des Alltags. Im alltäglichen Dauerkonflikt mit Homeschooling der Kinder und anderen pandemiebedingten Erfordernissen konnten die Künst­le­r*in­nen sich jetzt Platz und Zeit freiräumen, berichtete Ivana Sajevic, Mitbegründerin des Puppen- und Performancekollektivs love­fuckers. Ihre Kollegin Annemie Twardina, die sich eine Agentur für Reisen nach dem Tode, also den Urlaubsverkehr zwischen diversen Jenseitsdestinationen, ausdenkt, betonte auch den Gewinn, der durch die regelmäßigen Treffen entstand: „Man sieht, dass auch die anderen in Rechercheprozessen stecken. Man tauscht sich aus und wird angeregt.“

Aus diesen Austauscherfahrungen kristallisierte sich der Wunsch nach Verstetigung heraus. Nach der Beibehaltung von Recherchestipendien auch dann, wenn die Spielstätten wieder öffnen. Nach Begegnungs- und Workshopformaten. Sogar längst verschüttete Sehnsüchte wurden freigelegt. „Im Studium hat man uns ja immer versprochen, dass es auf Festivals den großen Austausch zwischen Künstlern gibt. Aber das findet selten statt. Man kommt, tritt auf und reist wieder ab. Längere Aufenthalte sind in den Budgets gar nicht vorhanden“, erzählte Sajevic, und regte an, Austausch- und Residenzformate zukünftig an Festivals zu koppeln.

Das TakeCare-Programm veränderte auch die gastgebenden Häuser. „Wir wurden, weil auf einmal die Künst­le­r*in­nen anwesend waren und forschten und probten, zu einem richtigen Produktionshaus“, bilanzierte Katja Spiess, Leiterin des Stuttgarter Fitz. Mehr Räume, mehr Stipendien, mehr Austausch, dafür vielleicht weniger Premieren, aber solche mit größerer Tiefe und in besserer Qualität – so lautet die Quintessenz des in den Qualen der Pandemie geborenen Stipendienprogramms.

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