berliner szenen
: Träume in Wohnküchen

Am Abend saß mir Emma gegenüber. Ein helles Licht fiel schräg auf ihren Kopf, ließ ihr hellblondes Jahr leuchten, es sah so transparent aus wie ihre Augenlider, durch die man beinahe schauen konnte. Doch woher kam dieses Licht? Ließen die sich türmenden Rauchwolken darauf schließen, dass wir in einer Bar saßen, in der trötiger Jazz lief, also was mit Saxofon oder Klarinette, oder saßen wir ganz woanders? Als die Wolken sich verzogen und keinerlei Musik zu hören war, wurde mir allmählich klar, dass es sich um einen Küchentisch handelte, der zwischen uns stand. Meiner oder ihrer? Hatte ich Emma herbestellt oder war ich zu ihr gegangen? Wie sah ihre Küche überhaupt aus, wusste ich das? Emma hatte das Rauchen eingestellt, die Kippe in dem dafür vorgesehenen Aschenbecher ausgetupft, ich musterte Wohnküchen und versteckte Kühlschränke vor meinem geistigen Auge, ich musste an Dr. Schmidt denken, meinen Neurologen, der in meiner Vorstellung in einem Neubau mit Kücheninsel in der offenen Küche lebte, während Emma über Leidenschaft redete, auch wenn es nur die Leidenschaft fürs Segeln war. Über Leidenschaft und ihren Gegensatz, die Wut, über Enttäuschungswut, kindliche Gefühle, Gefühle der Resignation, zum Beispiel bei schlechtem Wetter, was nicht zu ihr passte, weder das Segeln noch die Resignation, sie saß da als ordoliberale Frau der Zeit, die bislang immer nur die Sonnenseite gesehen hatte, so sah ich das. Aber sie war wütend, über das Wetter, die miese Saison, die schlechte allgemeine Lage und über die Stewardessenkrankheit, die sie seit Neuestem hatte. Sie saß in meiner Küche an einem Samstagabend und war stewardessenkrank. Das ­bedeutete, sie hatte einen Ausschlag, weil sie zu viel Make-up trug gegen den Ausschlag, den sie schon hatte. Eine Art späte Akne für eine Art spätes Mädchen.

René Hamann