Klassismus und Bildung: Mehr als nur Anerkennung
Klassismus auf Bildungsdiskriminierung zu reduzieren, ist realitätsfremd. Die Debatte um Klassismus wird verengt und mit falschem Fokus geführt.
K lassismus ist der älteste aller Diskriminierungsbegriffe. Bereits in den 1830er Jahren wurden Klassenunterschiede als „Classism“ bezeichnet. In den 1970er Jahren wurde dieser Begriff in den USA parallel zu Sexismus von dem lesbischen Arbeitertöchterkollektiv „The Furies“ wiederbelebt. In Deutschland dauerte es noch einmal fünfzig Jahre. Jetzt endlich wird Klassismus auch hier in den Medien diskutiert. Allerdings läuft in dieser Debatte einiges schief.
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Daher ist es nötig, daran zu erinnern, wofür der Begriff Klassismus steht: Unterdrückung aufgrund des sozialen Status. Der Begriff bezieht sich also nicht nur auf Fragen der Anerkennung, wie in verschiedenen Beiträgen behauptet wird, sondern auf die ganze Palette, die die Politikwissenschaftlerin Iris M. Young in ihrem Artikel „Five Faces of Oppression“ (Fünf Gesichter der Unterdrückung) benannt hat: Ausbeutung, Machtlosigkeit, Marginalisierung, Gewalt und Kulturimperialismus. Kulturimperialismus bedeutet, dass die besondere Perspektive einer gesellschaftlichen Gruppe unsichtbar gemacht wird. Sie wird stereotypisiert und als „das Andere“ markiert.
All dies sind Aspekte von Klassismus, die Geringverdiener*innen, Erwerbslose, Wohnungslose oder Arbeiter*innenkinder betreffen. Sie reichen von der Vermögens- und Eigentumsverteilung bis zum Wohnen, von der Gesundheit bis zur Bildung. Was Klassismus im Bildungssystem konkret heißt, führt pars pro toto eine Studie vor Augen, die Schulen in Wiesbaden untersucht hat. Das Ergebnis: Die Schulnote 2,5 führt bei 70 Prozent der privilegierten Schüler*innen zu einer Gymnasialempfehlung, aber nur bei 20 Prozent der nichtprivilegierten. Nicht die Leistung, sondern der Bildungsstand und das Einkommen der Eltern spielen eine wesentliche Rolle bei der Verteilung der Bildungschancen.
Die Iglu-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) zeigte 2016 bundesweit einen ähnlichen Befund. Bei gleicher Lesekompetenz und den gleichen kognitiven Fähigkeiten erhalten Kinder aus privilegierten Elternhäusern gegenüber denen aus der Arbeiterklasse 3,37-mal so oft eine Gymnasialempfehlung. 2001 betrug dieser Bevorteilungsfaktor noch 2,63. Die strukturelle Benachteiligung von Arbeiter*innenkindern nimmt nicht ab, sie wächst. Die Ungerechtigkeiten beginnen mit der Geburt und setzen sich über Kitas, Grundschulen und weiterführende Schulen fort. Im Studium und selbst noch, wenn man promoviert hat, bleibt die soziale Herkunft ausschlaggebend, so der Elitenforscher Michael Hartmann.
Heike Helen Weinbach, Professorin für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Didaktik im Kindesalter, und ich haben in dem vor zwölf Jahren erschienenen Buch „Klassismus. Eine Einführung“ die ganze Palette der Klassismus-Aspekte ausgeführt. Die aktuellen Debattenbeiträge in der taz, Zeit und vor allem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung („Klassismus. Überbau ohne Basis“ von Isabell Opperbeck vom 21. 4.) kreisen indes einseitig um den Begriff Anerkennung. Die Behauptung, Klassismus werde akademisch ohne Basis als Anerkennungsbegriff benutzt, führt in die Irre. Klassismus ist kein „Überbau ohne Basis“, es ist ein Basisbegriff. Mehr noch: Der Begriff Klassismus ist ein Praxisbegriff und nur ein Nebenprodukt der antiklassistischen Praxis. Die aber wird in der aktuellen deutschen Diskussion ausgeblendet.
Vor 20 Jahren organisierten sich erstmals studierende Arbeiter*innenkinder in einer Vollversammlung und wählten Vertreter*innen mit dem politischen Auftrag, gegen die Diskriminierung von Arbeiter*innenkindern im Bildungssystem vorzugehen. An der Uni Münster wurde das erste autonome Referat von Arbeiter*innenkindern gegründet. Als Initiator kann ich versichern, dass es nicht darum ging, Arbeiter*innenkinder passförmig zu machen, um so Bildungsaufstiege zu erleichtern. Das Ziel ist vielmehr, den „Habitus-Struktur-Konflikt“ (Lars Schmitt) von studierenden Arbeiter*innenkindern zu verändern, und zwar durch den Abbau der Bildungsbarrieren, die Akademiker*innenkinder privilegieren.
Im Zuge dieser politischen und praktischen Selbstorganisierung habe ich auf den Begriff Klassismus zurückgegriffen. Zu dieser Praxis gehörte eine von mir initiierte internationale Konferenz der WorkingClass/PovertyClass Academics, das Arbeiterkinder-Magazin Dishwasher, das Institut für Klassismusforschung und mehr. Nach zahlreichen Anläufen gründete sich dann erst 2019 nach einer Vollversammlung das nächste Arbeiter*innenkinder-Referat.
Dann ging es – trotz Corona – schnell. In Köln wurde 2020 das autonome Referat „Für antiklassistisches Empowerment“ und an der LMU München das „Anti-Klassismus-Referat“ begründet. An der ASH Berlin, den Hochschulen in Gießen, Potsdam, Frankfurt/Main gibt es weitere Projekte. Sie alle sind miteinander vernetzt. Ein als Verband fungierender Verein zum Abbau von Bildungsbarrieren, dessen Vorstand aus von lokalen Vollversammlungen gewählten (Ex-)Referent*innen besteht, sammelt nun Spenden, um das Münsteraner Blatt The Dishwasher. Magazin für studierende Arbeiter*innen|kinder bundesweit herauszubringen. Wie den Herausgeber*innen der Publikationen zu Klassismus wie Heike Weinbach, Francis Seeck, Brigitte Theißl, Riccardo Altieri und den Aktivist*innen von „Klassismus ist keine Kunstepoche“ scheint es auch mir zentral zu sein, neben Anerkennungsfragen auch Vermögens- und Gewaltaspekte zu thematisieren. Man kann und muss auch von Coronaklassismus und von Klimaklassismus sprechen. Die Pandemie und der vor allem von Reichen gemachte Klimawandel treffen Arme besonders hart.
Klassismus ist daher mehr als Bildungsdiskriminierung. Doch die konkrete Bewegung an den Hochschulen ist die aktuelle Basis des Klassismusbegriffs. Und es ist klassistischer Kulturimperialismus, diese Bewegung in den Debatten zu ignorieren und so unsichtbar zu machen.
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