Ein halbes Kilo Poesie

Gut 800 Gramm schwer und 536 Seiten dick: die neue Doppelausgabe des „Ziegel“ ist eine ausgesprochen ergiebige Fundgrube für Hamburger Literatur

Aus Hamburg, über Hamburg weiter nach ganz woanders: Der „Ziegel“ versammelt hanseatische Literatur, auch wenn sie meist in der Psyche spielt Foto: Foto:Mairisch Verlag

Von Frank Keil

Sie ist eine tief norddeutsche Seele, die Ich-Erzählerin, der wir auf ihrem Weg ins Land des Karnevals folgen. Pastorin ist sie von Beruf, soll die Kollegen vertreten, die in den nächsten Tagen sehr anderes zu tun haben. Sie hat sich freiwillig gemeldet zum Seelsorgedienst in Köln. Doch kaum sitzt sie, den Lobpreis des Vaterunsers anstimmend, im Stift bei den ganz Alten im Stuhlkreis, will ihr sein Name nicht einfallen: der, dessen Name geheiligt sei. Gibt es das? Gott-Demenz?

Mit einem vielversprechenden Auszug aus ihrem geplanten Debütroman „Ans Licht“ eröffnet Tamar Noort den aktuellen Ziegel, die Nummer 17, zusammengefasst für die Jahre 2020 und 2021. 57 weitere Beiträge werden folgen: Roman­auszüge und Erzählungen, Lyrik und Kurzprosa und Passagen aus Theaterstücken.

Auf gestandene Namen wie die von Nils Mohl, Stefan Beuse oder Katharina Hagenah stößt man oder auch auf Heinz Strunk. Von dessen Erzählung „Steil gehen“ man sogleich lesend lernen kann, dass man es eben können muss: gleich auf die Tube drücken, gleich mit 180 Sachen in einen Text starten, es vom ersten Satz an aber so was von krachen lassen. Und es klingt kein bisschen bemüht dabei, auch nicht angestrengt, sondern folgerichtig jagt ein Satz den nächsten, das kann der Strunk.

Wie anders dagegen die hypergenauen, fordernden Beobachtungs- und Wahrnehmungssplitter von Cornelia Manikowsky aus ihrem Prosaband „Kleine Dinge“, der noch dieses Jahr erscheinen soll. Auffällig, aber nicht überraschend: In vielen Beiträgen dominiert deutlich das erzählerische Ich. Ein Ich, das seinen Weg in die Welt sucht und dort nach einem Platz Ausschau hält, wo es sich womöglich auf Dauer aushalten lässt.

Um Paare geht es, die sich vorsichtig kennenlernen und sich dann fragen, ob das alles gewesen ist. Zuweilen geht es auch ums Wohnen, ums Ein- und Ausziehen, nach entsprechenden Enttäuschungen im noch jungen Leben. Wie etwa bei der schönen Erzählung „Die Wette“, in der wir einer jungen Frau folgen, die allein den Auszug ihrer Mitbewohnerin verkraften muss, wo sie doch noch dazu in einem Café jobbt, das dafür bekannt ist, dass man dort am besten ein Date bewältigt – und dann stirbt auch noch die Königin, Queen Elizabeth II. Dicht geschrieben ist die Erzählung von Nefeli Kavouras, die übrigens auch die Redaktion des Ziegel verantwortet.

Auffällig oft stoßen wir beim Lesen auf Personal aus dem psychotherapeutischen Milieu. „Als ich fünfzehn war, ging ich zu einer Psychiaterin“, beginnt etwa Katharina Unteutsch eine ihrer lohnenden Kurzerzählungen: „Sie saß in einem hellen Raum mit weißen Teppichen und sagte nichts.“ Da möchte man doch gleich wissen, ob und wie es weitergeht.

Alte Bekannte sind dabei wie der wunderbare Hamburg-Rahl­stedt-Chronist Alexander Posch, der seine Vater-und-Sohn-Protagonisten diesmal ins Freibad neben dem Friedhof schickt, weil die Frau im Homeoffice ist und entsprechend ihre Ruhe braucht: „Als ich jung war, war das Bad nur eine mit Regenwasser vollgelaufene Tongrube“, heißt es illusionslos. Und Michael Weins, auch er ein alter Ziegel-Bekannter, mutet einem Jungen zu, der Kinderpsychologin zu erklären, ob er gern liest, ob er weiß, was eine Depression ist, wofür er sich so interessiert: „Das ist eine gute Frage, möchte er sagen, aber verkneift es sich, weil es ein Satz ist, den Erwachsene sagen.“

In vielen Beiträgen dominiert das lyrische Ich, das seinen Weg in die Welt sucht und dort nach einem Platz Ausschau hält, wo es sich womöglich auf Dauer aushalten lässt

Okay: Es gibt auch einige Na-ja-Texte, aber so gut wie keine Wäre-nicht-nötig-gewesen-Texte. Und: Fundus sind und bleiben auch diesmal die Einreichungen zu den jährlichen Hamburger Literaturpreisen aus den vergangenen zwei Jahrgängen. Mit dem Nebeneffekt, dass bei den ausgezeichneten Texten Öffentlichkeit wie Transparenz herstellt wird, aber auch all die anderen guten Einreichungen ein Publikum finden. Außerdem erfährt man so, wie vielfältig das literarischen Schaffen in einer Stadt wie Hamburg ist.

Was überhaupt die Ursprungsidee war, als vor mittlerweile 30 Jahren der damalige Literaturreferent Wolfgang Schömel gemeinsam mit dem Kulturjournalisten Jürgen Abel, der immer noch dabei ist, auf den Berg an eingereichten Manuskripten zum damals noch „Hamburger Förderpreise für Literatur“ schauten und sinngemäß dachten: Schade, dass das meiste, doch so Gute, preisgekrönt oder nicht, wohl nicht viele Leser und Leserinnen finden wird, obwohl es das verdient hätte. 1992 erschien so der erste Ziegel mit dem bis heute gültigen Untertitel „Hamburger Jahrbuch für Literatur“.

Damals orientierten sich die beiden zusammen mit dem Verleger Robert Galitz am Reichsmaß des Hamburger Backsteinziegels von 1869 in den Maßen 5,5 x 10,8 x 22,5 Zentimeter. Doch schon in der zweiten Ausgabe wurde das Format seitenmäßig gesprengt und seitdem heißt der Ziegel zwar noch so, ist aber keiner mehr. Geblieben ist allerdings die Leidenschaft, immer wieder ein kompaktes Lese-Buch zu erstellen, dass dazu einlädt, kreuz und quer gelesen zu werden, so wie man schlicht staunen kann, dass trotz aller sozialer und sonstiger Medien eines bis heute geblieben ist: Da setzt sich jemand hin und schreibt etwas auf und formt daraus Geschehen, erfindet Seite für Seite eine ganz eigene Welt aus Text und Sprache und lädt uns ein, sie zu betreten. Und ja: Wer weiß, ob all das etwas wird, was da als „Romanmanuskript“ angekündigt wird, ob es tatsächlich bis zum letzten Satz realisiert werden wird und ob es dann jemanden gibt, der das verlegt, es drucken lässt und schließlich verkauft. Aber der Anfang ist immer wieder aufs Neue gemacht.

„Ziegel Nr. 17“: Jürgen Abel und Antje Flemming (Hrsg.), Mairisch-Verlag 2021, 536 S., 18 Euro