Die Wahrheit: Schrumpelbrigade vom Stamme Runzel
Die neuen sind die alten Alten. Woran erkennt man die Generation Junggeblieben? Vier entscheidende Faktoren mit Zusatzzahl.
Kafka schrieb einmal, mit dreißig sei man alt. Heutzutage, da Hundertjährige aus Fenstern steigen und auf die höchsten Berge der Welt kraxeln, sind Dreißigjährige allenfalls Küken in der zweiten Pubertät. Und die neuen Alten sind zumindest ihrer eigenen Meinung nach jung geblieben.
Niemand will mehr zur Armee der Unsichtbaren gehören und in Stützstrumpf-Beige herummarschieren. Wenn es auf einen vorruhestandsrunden Geburtstag zugeht, lautet die beliebteste Binse: „Sechzig ist das neue vierzig.“ Den Krückstock ersetzen mittlerweile die Nordic-Walking-Stöcke, unterm blondierten Schopf wird der erste Marathon gelaufen und Oma wie Opa sind fit wie ein Turnvater-Jahn-Schuh. Den Rest besorgt die Botox-Bande der Schönheitsweißkittel und deren Falten glättendes Spritzbesteck.
Ganz so glatt wie die frischen Rentnergesichter ist die Angelegenheit allerdings nicht. Die neuen Alten sind nämlich immer noch die alten. Und es gibt vier Faktoren, an denen zu erkennen ist, dass der graue Herbst, wenn nicht silbrige Winter längst angebrochen ist, obwohl die juvenil leuchtenden Neonwurstanzüge der fossilen E-Bike-Fahrer auf den ersten Blick trügen.
Erstens leben die neuartigen Alten wie ihre hutzeligen Vorfahren gern in der Vergangenheit. Ihr Lieblingssatz ist: „Ich werde nie vergessen, wie …“ Und dann folgt eine verknotete Schnurre aus ihrer Jugend, wie man damals mit vier Leuten in einer klapprigen Ente über die Alpen gepest sei und sich hier einen Joint und da eine Pille zu Gemüt geführt habe, bevor man splitterfasernackt ins Mittelmeer gesprungen sei.
Grauen ohne geistigen Anschluss
Allerdings ging es zuvor in der Runde um aktuelle Entwicklungen in der Politik, welcher Kanzlerkandidat wohl welchen Herausforderer bekomme. Plötzlich herrscht Schweigen im Rund. Die zuvor lebhafte Diskussion ist schlagartig erloschen. Keiner kann dem assoziativen Sprung von der gegenwärtigen Politik ins Abenteuerland der Jugendanekdoten folgen. Wo war bloß der geistige Anschluss? Die klapprige Ente und die grüne Kandidatin? War es das nackte Grauen, das aus Bayern kommt? Niemand weiß es. Weil es keinen Anknüpfungspunkt gab.
Statt sich an dem Hin und Her der Ansichten zu beteiligen, Stichworte aufzugreifen, spitze Bemerkungen zurückzuschießen oder pointierte Bonmots einzuflechten, was eben einen lebendigen Dialog unter Freunden ausmacht – der abrupte Bruch. Eine banale Geschichte aus der sehr eigenen Vergangenheit. Das bedeutet, alt sein.
Zweitens streben die ewig jungen Silberrücken eine Ceaușescu-artige Autonomie an, sie wollen alles allein machen, keine Hilfe annehmen, autark sein um jeden Preis. Wie die geizigen Generationen zuvor, die morgens begierig die Sonderangebote in den Reklameblättern studierten und für billige Schokolade Hunderte Kilometer fuhren, ohne zu bedenken, dass das Benzin kostete – Hauptsache, gespart! Sie fahren weite Strecken quer durch die verstaute Stadt für eine preiswerte Flasche Balsamico, um sie sich ja nicht liefern lassen zu müssen!
Sie verabscheuen nämlich Lieferanten ebenso wie Putzer, Zimmermädchen, Assistenten, Sekretärinnen, Handwerker und ähnliche Kräfte, die ihnen das Leben erleichtern könnten, von denen sie sich allerdings bevormundet fühlen. Sie fluchen zwar tagelang über ihre eigene Unfähigkeit, ein Fahrrad zu reparieren, wollen es aber unbedingt eigenständig bewerkstelligen und würden nie einen Auftrag in fremde Hände geben.
Dafür gibt es Leute, die es besser können, erklärt man ihnen, was sie vehement bestreiten. Wie ihr Großvater, der stets nur mit der Pistole auf der Brust einen Elektriker hatte kommen lassen, nachdem er mit seinen zwei ungelenken Händen den Bohrer auf eine unter Strom stehende Leitung gesetzt hatte und wehenden Haars Knall auf Fall rückwärts in die Badewanne katapultiert wurde – zum Glück, ohne sich auch nur einen einzigen der unabhängigen Knochen zu brechen. Das bedeutet, alt sein.
Kleinteiliger Kokolores aus dem Technikkrieg
Drittens verkämpfen sie sich starrsinnig in schrullige Streits mit ungeliebten Nachbarn, vornehmlich aber mit uralten Freunden aus der Kindheit, allein um den ganzen Tag mit der halben Familie zu telefonieren und allen, die es nicht hören wollen, kleinteilig die abstruse Geschichte der vor Jahrzehnten ausgeliehenen Schallplatte von eigentlich minderer Qualität aufzutischen, die der Feind jetzt nicht mehr herausrücke, mit dem Argument, die Musik sei zu schlecht, weshalb er sich die Platte niemals geborgt hätte, was eine Lüge sei, denn in den Wirren des Streits sei sie nun doch aufgetaucht und eigentlich gar nicht zu gebrauchen, weil total verkratzt, jedenfalls habe man sich darüber entfreundet. Ein einziger Kokolores aus den bizarren Wirren des Dreißigjährigen Technikkriegs. Das bedeutet, alt sein.
Viertens reden sie wie einst Großväterchen Zahnlos am liebsten über Krankheiten: Sehnenzerrungen sind der neue Sex und Hörgeräte die Gettoblaster der Jugend von heute. Zum Hochzeitstag gibt’s statt roter Rosen Hämorrhoidensalbe. Es wird nicht mehr bei Bier und Schnaps von wilden Vögelabenteuern gefantert, bei Kaffee und Kuchen wird stundenlang vom letzten Zahnarztbesuch bramabarsiert, wie angenehm die ultramoderne Knopfdrucktechnik doch für die Zahnersatzleiste sei. Und dann steht ja dieses Jahr auch noch das linke Knie und die rechte Hüfte an. Ein Fest für jeden Ersatzteilhändler. Am liebsten würden sie die Implantate selbst zusammenzimmern und hineinoperieren – nach Lokalnarkose mit Eierlikör. Wir sind die tapferste Generation seit Methusalem und schon jetzt genauso verstaubt. Das bedeutet, alt sein.
Und als Zusatzzahl gibt es noch ein ganz persönliches fünftes Erkennungsmerkmal der neuen Alten: Ihr Lieblingsthema ist das Älterwerden. Dann ziehen sie in einer Tour her über die aktuellsten Kapriolen der sonderbaren Leute vom Stamme Runzel. Immer nach der mit Holzhammerironie beschlagenen Devise: „Wir werden eben langsam alt.“
Was allerdings eine Person niemals werden kann: der Verfasser dieser Zeilen. Er ist es nämlich schon längst. Als Anhänger des good old Komikers Kafka gehört er seit dreißig Jahren zur Schrumpelbrigade. Damit ist er auf der sicheren Seite und zugleich forever young. Dann können die übrigen Zetergreise und Grantelschrauben ihm ruhig mit dem gammeligsten Argument aller verrenteten Studienräte, die den lieben, langen Tag Leserbriefe schreiben, kommen: Das sei doch Schülerzeitungsniveau! Aber ja, aber immer! Denn dreißig ist bekanntlich das neue dreizehn.
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