Jasmin Ramadan
Einfach gesagt
: Zwang, Drang und Drängelei

Foto: Roberta Sant‘anna

„Menschenmassen waren noch nie mein Ding, also mir fehlt dahingehend nix!“, sagt die Frau in der Schlange vor dem Corona-Testzentrum zur Freundin vor sich.

„Das ist nicht originell, Birgit, wer mag schon Menschenmassen?!“

„Meine Schwester ist jeden Sommer auf Festivals gewesen, nicht wegen der Musik, wenn du mich fragst, sondern wegen der Menschen.“

„Wegen den vielen Menschen auf einem Haufen? Was soll Jennifer daran gemocht haben?“

„Keinen Schimmer, ich krieg da nur Antigefühle, ich hab laut Google Agoraphobie.“

„Aber du bist doch sonst eher gesellig.“

„Du kennst mich nicht wirklich, Suse, ich steh nicht mal gern in ’ner Schlange, da fühl’ich mich schon irgendwie eingeengt.“

„Kannst doch jederzeit gehen!“

„Kann ich nicht.“

„Wieso nicht?“

„Ich hab einen Termin, ich will was. Und je länger die Schlange, desto weiter bin ich von meinem Ziel weg, und wenn Jennifer auf dem Hurricane ist, muss sie vor jedem Bier und Toilettengang erst mal in ’ne lange Schlange, das wär’für mich Horrorszenario pur.“

„Durst und volle Blase in Kombi – schön geht anders!“

„Ich mein’eher die Unfreiheit, nicht jederzeit tun und lassen zu können, was ich will. Die Leute auf den Festivals begeben sich allsommerlich freiwillig in lauter kleine Lockdowns.“

„Das ist jetzt aber weit hergeholt, ist doch eher das Gegenteil von Lockdown, mehr Kontakte auf weniger Raum geht doch kaum, das ist doch trotz draußen: Aerosole-City!“

„Da übersiehst du was, Suse, denn man ist da auch total abhängig davon, was die anderen machen, genau wie jetzt und hier!“

„Du meinst, wenn einer ausrastet, sind alle am Arsch.“

„Genau, mitgehangen, mitgefangen.“

„Und warum, glaubst du, gehen Leute dann so gern freiwillig auf Festivals oder Konzerte?“

„Der Mensch will sich selbst vergessen und das kann er am besten zwischen vielen anderen Menschen.“

„Deshalb regen sich alle so über den Lockdown auf, nicht wegen der Regeln.“

„Eben, weil alle nur noch sich selbst im Sinn haben, die Menschen kriegen davon Selbstphobie!“

„Hab’gehört, so ein Typ hat mal angefangen, sich vor der eigenen Zunge zu ekeln.“

„Warte … im Internet steht, es heißt ‚Autophobie‘und bedeutet auch, dass man Angst hat, nicht genug geliebt zu werden und dass man nicht genug Aufmerksamkeit bekommt und so.“

„Aufmerksamkeit ist doch völlig überschätzt, da hat man nix von, genauso viele Leute, wie dich gut finden, finden dich auch blöd, und am Ende ist wieder alles bei null“

„Erzähl’das mal einer Histrionikerin!“

„Jetzt pack’doch mal das Telefon weg, Ängste gibt es doch zu jedem Thema, was soll’s. Und warum geht das hier jetzt eigentlich nicht weiter?“

„Vielleicht hat der Mann, der vor uns stand, panische Angst vor Wattestäbchen, ich google mal, wie das heißt!“

„Schluss jetzt, oder ich geh’.“

„Geh’doch, dann ist es wenigstens keine Schlange mehr.“

Jasmin Ramadan ist Schriftstellerin in Hamburg. Ihr letzter Roman „Hotel Jasmin“ ist im Tropen/Klett-Cotta Verlag erschienen. 2020 war sie für den Bachmann-Preis nominiert. In der taz verdichtet sie im Zwei-Wochen-Takt tatsächlich Erlebtes literarisch.