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Foto: Sebastian Wells

Gentrifizierung in BerlinWir rücken zusammen

Der fehlende Leerstand ist das größte Problem der Gentrifizierung. Selbst da, wo man es nicht vermutet – am Stadtrand in Berlin-Spandau.

G rell leuchten die bunten Hochhäuser in der Heerstraße Nord, einer Großsiedlung am westlichen Stadtrand Berlins. 22 Stockwerke hoch erheben sie sich, umgeben von mehrgeschossigen 70er-Jahre-Bauten. Mehr als 18.000 Menschen leben in der Siedlung, die im Spandauer Ortsteil Staaken liegt. Ginge es nur nach der Nachfrage, wären es noch deutlich mehr – obwohl die Heerstraße trotz angrenzender Döberitzer Heide nicht unbedingt das ist, was man sich unter einer „Traumlage“ vorstellt. Doch freie Wohnungen sind in Berlin Mangelware. Selbst am Stadtrand sind sie nicht mehr so ohne Weiteres zu ergattern.

„Die vermittelbaren Wohnungen, die wir dort haben, sind weitestgehend vermietet“, sagt Josiette Honnef von der Wohnungsbaugesellschaft Gewobag. Der Gesellschaft gehört rund ein Drittel der etwa 8.000 Wohnungen in der Heerstraße Nord. Die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum werde immer größer. In den letzten drei Jahren habe es konstant mehr Bewerber_innen als zu vermietende Wohnungen gegeben, sagt Honnef. Tatsächlich fand sich zum Beispiel im Dezember für den gesamten Bezirk Spandau kein einziges Wohnungsangebot auf der Gewobag-Website – Mitte März sind es gerade mal neun.

Unbewegt

Anfang der 2000er Jahre sah das noch ganz anders aus. Damals standen in der Heerstraße Nord 18 Prozent der Wohnungen leer. Doch während die Mieten überall in Berlin enorm stiegen, schrumpfte die Zahl leer stehender Wohnungen an den Stadträndern zusehends. Im Jahr 2012 waren es für das Gebiet Heerstraße Nord nur noch etwa 3 Prozent – und selbst das scheint aus heutiger Sicht reichlich.

Der Mangel an leer stehenden Wohnungen ist stadtweit ein Problem. 2011 waren es in Berlin immerhin noch 3,5 Prozent. Die Zahl hat sich bis zum Jahr 2015 etwa halbiert. Die Großbausiedlung in Spandau ist keine Ausnahme, sondern die Regel: Auch im Ortsteil Hellersdorf am östlichen Stadtrand sank der Leerstand innerhalb von zehn Jahren von 12,6 Prozent auf gerade noch 1,4 Prozent im Jahr 2015. Das liegt sogar knapp unter dem stadtweiten Durchschnitt.

Die Wohnungswirtschaft spricht bereits ab einem Leerstand von 2 bis 3 Prozent von Vollvermietung. Dies ist die Schwelle, an der noch ausreichend Mobilität auf dem Wohnungsmarkt möglich ist. Wer umziehen möchte, findet eine Wohnung und gibt dadurch seine wieder frei. Auch Sanierungsarbeiten, die Wohnungen zwischenzeitlich dem Markt entziehen, stellen mit einem solchen Puffer kein Problem dar. Ist dieser jedoch nicht vorhanden, kommt die Bewegung innerhalb der Stadt zum Erliegen.

Überbelegt

Die Konsequenz: Man rückt zusammen. Der Wohnraum muss reichen, egal wie eng es ist. Dabei spielt keine Rolle, ob inzwischen Nachwuchs da ist. Paradoxerweise zwingen die steigenden Mieten Menschen aber auch, in zu großen Wohnungen zu bleiben. Ein Witwer etwa würde gern in eine kleinere Wohnung ziehen, seine große würde frei werden. Doch eine Einzimmerwohnung zum heutigen Mietniveau wäre viel teurer als seine alte Wohnung. Zu solchen Konditionen kommt ein Umzug kaum infrage.

Immer schlechtere Wohnlagen und Überbelegung: Das ist die nächste Stufe der Gentrifizierung. Sie zeichnet sich nicht mehr nur dadurch aus, dass die Verdrängten ihre Kieze verlassen müssen. „Innere Verdrängung“, so nennt der Stadtforscher Sigmar Gude das Phänomen deswegen; „Verdrängung aus dem Lebensstandard“, sagt der Stadtsoziologe und Gentrifizierungskritiker Andrej Holm dazu. Wie schwerwiegend die Folgen der Gentrifizierung tatsächlich sind – das wird erst jetzt so richtig deutlich.

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Malern lohnt nicht, sie wollen doch umziehen

Die Al Soukiehs aus Kreuzberg sind seit sechs Jahren auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Doch es gibt kaum Wohnungen, die groß genug wären für sie – und auch erschwinglich. Die sechsköpfige Familie muss bleiben, wo sie ist: in beengten Verhältnissen.

Die Nachbarschaft: Kreuzberg 61 Foto: Sebastian Wells

Es dampft, als Darine Al Soukieh heißen Tee aus einer kleinen silbernen Kanne in die Tassen auf dem Wohnzimmertisch gießt. „Ein viertes Zimmer“, sagt die 37-jährige Frau mit dem rundlichen Gesicht. „Dann wäre alles gut.“ Es müsse nicht mal ein großes Zimmer sein, sagt sie und streicht ihr schwarzes Kopftuch glatt. Die Wohnung der Al Soukiehs im Berliner Stadtteil Kreuzberg ist karg eingerichtet, das Mobiliar auf das Nötigste reduziert. Das geräumige Wohnzimmer ist das Herz der Wohnung, in deren drei Zimmern Darine Al Soukieh und ihr Mann Ismael mit ihren vier Kindern wohnen – auf gerade mal 70 Quadratmetern.

Dabei stünde den Al Soukiehs viel mehr zu. Ismael Al Soukieh, ein groß gewachsener Mann mit leichtem Bauchansatz und dunklen Haaren, durch die sich graue Strähnen ziehen, sitzt auf dem Sofa. Aus gesundheitlichen Gründen kann der 51-Jährige seit rund zehn Jahren nicht mehr in seinem Job auf dem Bau arbeiten, die Familie lebt von Hartz IV. Beim Jobcenter heißt es, für einen Sechspersonenhaushalt seien maximal 109 Quadratmeter angemessen – die Familie liegt mit ihrer Wohnung unterhalb der maximalen Wohnfläche für einen Dreipersonenhaushalt.

Die weißen Wände sind nun grau

Es geht aber nicht darum, was den Al Soukiehs zusteht. Seit etwa sechs Jahren sind Darine Al Soukieh und ihr Mann auf der Suche nach einer neuen Wohnung – vergebens. Es gibt kaum Wohnungen in der benötigten Größe, die das Ehepaar sich leisten kann. Und die, die es gibt, sind umkämpft. Denn in keiner anderen deutschen Großstadt sind die Mieten im vergangenen Jahrzehnt so extrem gestiegen wie in Berlin. Genau gegensätzlich verhält es sich mit der Entwicklung des Leerstands: Nicht nur günstige Wohnungen sind Mangelware, es gibt überhaupt kaum noch freie Wohnraum. Gerade mal rund 1,7 Prozent beträgt die Leerstandsquote in Berlin, so niedrig wie seit 20 Jahren nicht mehr. Für einen entspannten Wohnungsmarkt setzen ExpertInnen eine Untergrenze von 3 Prozent an.

1,7 Prozent – eine Zahl, die eines deutlich macht: Die Wohnungsnot ist in Berlin kein Problem, mit dem nur gering verdienende oder vom Amt abhängige Haushalte konfrontiert sind. Es betrifft Familien, in denen beide Eltern ohne Job sind, ebenso wie solche, in denen die Erwachsenen studiert haben und arbeiten gehen. Es betrifft die Al Soukiehs in Kreuzberg ebenso wie die Lindermeirs in Neukölln.

Rima sitzt im Wohnzimmer Foto: Sebastian Wells

Vom Wohnzimmerfenster der Al Soukiehs sieht man mit Einkäufen bepackte Menschen aus der Markthalle am Kreuzberger Marheinekeplatz kommen. Gelegen zwischen Alnatura-Laden und Biocompany, duftet es in der 1892 eröffneten Kaufhalle nach Auberginen in Olivenöl und gebratenem Fleisch, alles zu ambitionierten Preisen. Im Obergeschoss legen junge Leute mit Hornbrillen und Jutebeuteln Seitan-Nuggets auf das Kassenband eines veganen Supermarkts. Gegenüber dieser Szenerie wirkt die Wohnung der Al Soukiehs direkt um die Ecke wie ein Besuch in der Vergangenheit: als die Durchschnittsmieten in der Gegend noch nicht bei 10 bis 11 Euro pro Quadratmeter nettokalt lagen.

Im Laufe der Jahre sind die weiß gestrichenen Wände im Wohnzimmer grau geworden. Seit 17 Jahren wohnt das Ehepaar Al Soukieh hier. Jetzt sitzen die beiden in der Sofaecke am Fenster, Darine Al Soukieh blickt nachdenklich auf die Kinderkritzeleien an den Wänden. Vor allem neben dem Schreibtisch in der Ecke sieht es aus, als machten die Kinder ihre Hausaufgaben gern mal an der Wand statt auf einem Blatt Papier. Von den Türen blättert an einigen Stellen der Lack. „Jedes Jahr überlegen wir, zu renovieren“, sagt die Frau mit den freundlichen Augen und dem zurückhaltenden Lächeln. „Aber dann denken wir: Wir wollen doch umziehen.“

„300 D-Mark warm habe ich beim Einzug für die Miete bezahlt“, sagt Ismael Al Soukieh. Inzwischen sind es 615 Euro – ihre Warmmiete liegt damit mehr als 2 Euro unter der durchschnittlichen Nettokaltmiete in der Gegend. Doch selbst der beste Quadratmeterpreis hilft nichts, wenn die Wohnung zu klein ist. Die vier Kinder der Al Soukiehs schlafen alle im selben Raum – vom Jüngsten, dem achtjährigen Sohn Ali, bis zur 17-jährigen Rana. Weniger als 15 Quadratmeter hat das schlauchförmige Kinderzimmer. Auf der Schrankwand stapeln sich leere Koffer. Rana und ihre 13-jährige Schwester Rima liegen in ihrem Hochbett, stellen sich schlafend. „Sie sind schüchtern“, lacht die Mutter. Ali und der 11-jährige Tarik müssen sich ein Bett teilen. Doch im Moment ist das Bett leer – Tarik ist bei der Ergotherapie, der Jüngste sitzt brav neben den Eltern im Wohnzimmer und lächelt. Kein böses Wort kommt über seine Lippen: Sich mit dem Bruder ein Bett zu teilen sei „schön“. Ein größeres Zuhause wünscht er sich trotzdem: „Weil das schön wäre.“

Rana, Ali und Tarik. Zusammen mit Rima teilen sie sich das Zimmer Foto: Sebastian Wells

Fast jeden Tag durchsucht Darine Al Soukieh die Wohnungsangebote auf den einschlägigen Internetportalen. „Aber manchmal kann ich nicht mehr“, sagt sie. Sie tippt und wischt ein paarmal auf ihrem Smartphone, dann schiebt sie das Telefon über den Tisch. „Kreuzberg ist zu teuer“, sagt sie. Die Wohnungsangebote sprechen für sich: Eine Zweizimmerwohnung direkt um die Ecke, knapp 97 Quadratmeter für rund 1.260 Euro kalt. Oder eine Wohnung am nahe gelegenen Landwehrkanal: gerade mal 69 Quadratmeter, zwei Zimmer, für 1.730 Euro kalt.

Am nächsten Tag wollen sie zu einer Besichtigung im angrenzenden Stadtteil Schöneberg. Es geht um eine Wohnung im Besitz der Gewobag, eines der sechs kommunalen Wohnungsunternehmen in Berlin. Entsprechend günstig ist die Miete – vier Zimmer auf 105 Quadratmeter, für etwa 718 Euro kalt. Er sei schon zu mehreren solcher Termine gegangen, sagt Ismael Al Soukieh. „Mehr als hundert Leute waren da, das war verrückt“, erinnert er sich. Immer und immer wieder habe er seine Unterlagen eingereicht, aber nie sei etwas zurückgekommen. So sehr sie ihren Kiez lieben, die Al Soukies suchen auch in Tempelhof oder in den weiter entfernten Bezirken Rudow und Spandau. Doch auch dort gibt es kaum freie Wohnungen.

Die Nachbarschaft: Kreuzberg 61

„Ich kenne hier jede Straße, jede Ecke“, sagt Ismael Al Soukieh. Er kam in den 1990er Jahren als Bürgerkriegsflüchtling aus dem Südlibanon nach Deutschland, seit 1998 hat er die deutsche Staatsbürgerschaft. Zunächst lebte er in der Stadt Werl in Nordrhein-Westphalen, knapp 40 Kilometer östlich von Dortmund. Vor 20 Jahren kam er für die Arbeit auf einer Baustelle nach Berlin, seitdem lebt er im Kiez.

„Es geht mir vor allem um Rana“, sagt Darine Al Soukieh. „Unsere Tochter ist jetzt 17 und muss sich immer noch ein Zimmer mit ihren drei Geschwistern teilen.“ Rana geht in die zehnte Klasse, sie will Abitur machen. Doch die Ruhe zum Lernen fehlt zu Hause: Die Kinder machen ihre Hausaufgaben am Esstisch im Wohnzimmer, wo der Fernseher läuft, auf dem Sofa gequatscht wird, die Geschwister streiten. Oder auf dem Bett. Besonders im Winter sind die Geschwister am Nachmittag meist zu Hause. Im Sommer ist alles ein wenig einfacher: Die Jungs kicken dann oft auf dem Fußballplatz um die Ecke, auch ein Spielplatz liegt direkt vor dem Haus.

Wem das Jobcenter die Miete zahlt, der muss sich an die vom Amt festgelegten Angemessenheitsgrenzen halten. Gar nicht so einfach in Berlin: Im Jahr 2007 fanden sich auf dem Immobilienportal ImmobilienScout24 noch über 100.000 Angebote, die diese Anforderungen erfüllten – verteilt auf so gut wie alle Stadtteile. 2011 wurden nur noch 62.500 angemessene Wohnungen auf dem Portal angeboten. Am wenigsten solcher Angebote gab es damals in den Bezirken Friedrichshain-Kreuzberg und Charlottenburg-Wilmersdorf. Im Jahr 2015 dann sind kaum noch angemessene Angebote auf dem Portal zu finden: 9.575 Angebote stadtweit, in nur zwei Bezirken (Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick) gibt es mehr als 1.000 solcher Wohnungsangebote. Eine ausreichende Versorgung mit preiswerten und angemessenen Wohnungen ist unter diesen Umständen nicht mehr möglich.

Ismael Al Soukiehs Blick wandert durch das Wohnzimmer, vorbei an der Schrankwand mit dem Fernseher und der Vitrine mit den Porzellan-Leuchttürmen. Sonst gibt es wenig Schmückendes an den Wänden, die Einrichtung ist auf das Nötigste beschränkt: Sofaecke, Schrankwand, Tisch und Eckbänke, ein kleiner Schreibtisch in der Ecke. „Wenn etwas kaputt ist, schmeiße ich es sofort weg“, sagt Ismael Al Soukieh.

Der alte Mietvertrag

Er habe mal die Hausverwaltung gefragt, ob sie die Wohnung tauschen könnten. Damals hätte es gerade mehrere freie Wohnungen im Haus gegeben, größere als die der Al Soukiehs. Doch aus dem Plan wurde nichts. „Die sind froh, wenn wir ausziehen“, sagt er. Dass die Miete der Al Soukiehs so günstig ist, liegt an ihrem alten Mietvertrag – bei Neuvermietung könnte die Hausverwaltung deutlich mehr Geld verlangen. So wie bei der 4-Zimmer-Wohnung im Haus, auf die Ismael Al Soukieh ein Auge geworfen hatte. Etwa 800 Euro zahlte die Nachbarin, die dort wohnte. Doch nach ihrem Auszug verlangte die Hausverwaltung dann mehr, als die Al Soukiehs sich leisten können. Dabei könnten sie durchaus mehr aufbringen, als sie momentan zahlen. Bis zu 924 Euro bewilligt ihnen das Amt.

Erst einmal bleibt es eng bei den Al Soukiehs. „Wir haben aus Spaß schon mal überlegt, noch eine Wand einzuziehen“, lacht Darine Al Soukieh. „Aber dann wäre vom Wohnzimmer ja nichts mehr übrig.“ So wenig Mut die Lage auf dem Wohnungsmarkt auch macht – aufgeben will die Familie nicht. „Was soll ich machen“, fragt der Vater und zuckt die Achseln. „Soll ich sagen, wir packen unsere Sachen und gehen auf die Straße?“ Erschrocken blickt sein Sohn Ali ihn an. „Nein“, sagt er. „Auf die Straße gehen ist schlimm.“

„Ich kenne hier jede Straße, jede Ecke“, sagt Ismael Al Soukieh Foto: Sebastian Wells

Alles nach oben stapeln

Familie Lindermeir wohnt in Neukölln zu fünft: 81 Quadratmeter in zweieinhalb Zimmern. Das ist verdammt eng. Es geht nur, weil jeder Zentimeter als Stauraum genutzt wird.

Ortswechsel. Der Neuköllner Weichselkiez liegt weniger als drei Kilometer Luftlinie vom Zuhause der Al Soukiehs entfernt. Hier wohnt Familie Lindermeir. Man schiebt sich an dem Vorhang vorbei, der die kalte Winterluft draußen halten soll, und steht mitten drin. Die Augen huschen nach links, nach rechts, nach oben. Überall gibt es etwas zu sehen, etwas zu entdecken. Rucksäcke, Bobbycars und Kinderspielzeugwagen hängen von oben in den Raum wie moderne Kunstinstallationen, befestigt an einer Gitterkonstruktion unter der hohen Decke. Die Jacken hängen auf Kopfhöhe, verstaut an einer selbstgebauten Garderobe, die gleichzeitig als Raumtrenner fungiert. Jeder Zentimeter Wand, so scheint es, muss gleichzeitig Stauraum sein.

Eva und Andreas Lindermeir sind nicht etwa passionierte Sammler, die ihre Schätze unterbringen müssen. Sie sind die Eltern einer jungen Mittelklassefamilie im Berliner Innenstadtbezirk Neukölln. Und sie sind ein weiteres Beispiel dafür, wohin die Gentrifizierung die Stadt führt. Denn Lindermeirs wohnen zu fünft in zweieinhalb Zimmern, auf 81 Quadratmetern. In verrückten Momenten träumen sie von einer 120-Quadratmeter-Wohnung irgendwo im Kiez. In der Realität blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich – vor allem räumlich – mit ihrer Wohnung zu arrangieren. Denn wie bei den Al Soukiehs ist ihre Suche nach einer bezahlbaren und gleichzeitig angemessen großen Wohnung bisher erfolglos.

Über Möbel klettern

Das Paar zieht im März 2008 in die Wohnung im Weichselkiez. Es ist eine schöne Gegend mit vielen der so beliebten Berliner Altbauten, zahlreichen Cafés und Spielplätzen und dem Landwehrkanal direkt vor der Tür. Eva Lindermeir ist gerade das erste Mal schwanger. 81 Quadratmeter, schöne, große Altbauräume – die Wohnung ist wie gemacht für die werdende Familie.

Jetzt sitzen Eva Lindermeir und ihr Mann Andreas an dem großen runden Tisch in der einen Ecke der Küche. Draußen vor dem Fenster scheint eine Straßenlaterne durch die kalte Winternacht, drinnen dampft es aus den Kaffeetassen. Die hochgewachsene, schlanke Frau mit den kinnlangen Haaren und ihr Mann sind Pragmatiker. Alles lässt sich irgendwie passend machen. Eva Lindermeir klettert über die Stühle am Tisch, um einen Teller mit Keksen zu holen. Während die Eltern erzählen, läuft ihr jüngstes Kind, der zweijährige Sohn Tommy, durch das Zimmer, stibitzt einen Keks nach dem anderen.

Tommy teilt sein sechs Quadratmeter großes Zimmer mit seinem Bruder Frank Foto: Sebastian Wells

„Gefühlt platzt hier alles aus den Nähten“, sagt seine Mutter. Fünf Personen auf zweieinhalb Zimmer – „eigentlich zweieinviertel“, sagt Andreas Lindermeir. Denn zu dritt sind sie längst nicht mehr: Zwei Jahre nach dem inzwischen achtjährigen Frank kam Nona zur Welt, im Sommer 2014 dann Tommy. Das kleinste Zimmer der Wohnung ist das für Berliner Altbauten typische „Dienstmädchenzimmer“. Es hat gerade mal sechs Quadratmeter. Dort hat Frank, der von allen Fränky genannt wird, sein Hochbett. Darunter steht das ebenfalls leicht erhöhte Kinderbett von Tommy. Viel mehr als diese beiden Betten haben in dem Kämmerchen kaum Platz. Durch die Hochbetten gebe es etwas mehr Stauraum, erzählt der Vater. Andreas Lindermeir ist ein ruhiger Typ mit schulterlangen Haaren und grau meliertem Bart. Er spricht leise und überlegt, dabei schaut er immer wieder seine Frau an.

Als die Lindermeirs einziehen, zahlen sie knapp 383 Euro kalt im Monat. Seitdem wurde die Miete mehrfach erhöht, zuletzt zum ersten Januar 2017. „Zum Glück haben wir nur moderate Erhöhungen bekommen“, sagt Eva Lindermeir. Es habe keine umfassenden Modernisierungsarbeiten gegeben, das Gebäude sei nur teilgedämmt worden. Ganz anders als bei anderen Gebäuden in der Nachbarschaft. Das Haus gehört zwei Schwestern, ist also nicht im Besitz eines großen Immobilieninvestors. „Moderate Erhöhungen“, das heißt für die Lindermeirs konkret, dass sie seit dem 1. Januar 2017 612,58 Euro kalt für ihre Wohnung zahlen sollen. Ein allmählicher Anstieg von knapp 230 Euro über nicht ganz neun Jahre. Und ganz nebenbei liegt die Quadratmetermiete mit 7,52 Euro kalt inzwischen auf den Cent genau an der Obergrenze des Mietspiegels.

Der Kleiderschrank unter dem Bett

„Im Vergleich mit den Neuvermietungen ist das ja noch im Rahmen“, sagt Eva Lindermeir. „Im Nachbarhaus wurde die Miete auf einen Schlag um 180 Euro erhöht.“ Doch so langsam sei auch ihre Schmerzgrenze erreicht. Deswegen hätten sie bei der letzten Mieterhöhung erstmals nicht sofort unterschrieben. „Wir arbeiten beide nicht Vollzeit“, sagt Andreas Lindermeir, der als Koch auf einer 90-Prozent-Stelle arbeitet. Eva Lindermeir ist Lehrerin an einer Berufsschule für Maler und Lackierer, sie unterrichtet 15 Stunden pro Woche. Dazu kommt die Vorbereitungszeit.

Im Laufe der Jahre hätten sie sich immer mal wieder nach Alternativen zu ihrer Wohnung umgesehen. „Aber alles hätte eine Verschlechterung bedeutet“, sagt Andreas Lindermeir. Und es ist eng. Neben dem Zimmer der Jungs und der Küche gibt es noch das Wohnzimmer und ein Durchgangszimmer. In diesem stehen sogar gleich zwei Hochbetten: Hier schlafen die Eltern und die sechsjährige Nona. Wie in den beiden Fluren hängen auch hier die Wände voller selbst gebauter Konstruktionen, auf denen die Habseligkeiten der Familie untergebracht sind. Der Raum unter dem Hochbett der Eltern dient als Mischung aus Kleiderschrank, Bücherregal und Abstellkammer, an Nonas Hochbett sind Stricke und Seile zum Klettern und Spielen befestigt. Das Wohnzimmer ist der einzige Raum in der Wohnung, der nicht bis in den letzten Winkel zugebaut ist. Es ist auch das einzige Zimmer, das viel Sonne abbekommt. Hier ist der Ort zum Sitzen, Reden, für Gemütlichkeit.

Nona geht zweimal die Woche zum Turnen Foto: Sebastian Wells

„Wir müssen die Höhen ausnutzen; Dinge und auch uns selbst nach oben stapeln“, sagt Andreas Lindermeir. Selbst der Kühlschrank steht auf der Küchentheke. „Dieses ganze Umräumen hat mir am Anfang den letzten Nerv geraubt“, sagt Eva Lindermeir. „Immer, wenn ich mich gerade daran gewöhnt hatte, stand wieder alles woanders.“ Am Ende seien es aber genau diese kleinen Umbauten gewesen, die das Wohnen auf so wenig Raum erträglich gemacht hätten. Hier mal ein Regal und da mal ein Treppchen – anders sei es nicht gegangen. Die meisten Basteleien hat Andreas Lindermeir selbst gemacht.

Tommy wird müde. Er klettert auf den Schoß seiner Mutter, kuschelt sich an. Seine beiden älteren Geschwister sind nicht zu Hause, wie so oft. Auch das ist eine Art, mit dem Mangel an Platz umzugehen. „Wir suchen uns unsere Rückzugsräume woanders“, sagt Andreas Lindermeir. „Ja, du zum Beispiel auf dem Sportplatz“, sagt seine Frau, „oder bei der Arbeit in der Mitarbeitendenvertretung.“ Zweimal die Woche bietet ihr Mann Fußballtraining an, am Wochenende ist er bei Turnieren. Sie selbst fährt ein- oder zweimal pro Woche nach Teltow, ein Städtchen im Süden Berlins. Dort hat Eva Lindermeir eine Reitbeteiligung. „Es ist ein super Gefühl, mal draußen zu sein und mit dem Pferd durch die Maisfelder zu reiten“, sagt sie. Und auch die Kinder werden mehrmals die Woche „ausgelagert“: Nona geht zweimal die Woche zum Turnen, Frank einmal zum Taekwondo und ein- oder zweimal wöchentlich zum Fußballtraining mit Papa. Weil sein Vater der Trainer ist, muss der Sohn keinen Beitrag zahlen – eine finanzielle Entlastung für die Familie. „Durch all diese Dinge sind wir nicht darauf angewiesen, ständig hier in der Wohnung zu sein“, sagt Andreas Lindermeir.

Freunde machen die Wohnung erträglich

Dabei mögen Lindermeirs ihre Wohnung. Sie mögen den Kiez, die Nachbarn, die kurzen Wege. Die Kinder können zur Schule laufen, die Kita ist um die Ecke, und viele befreundete Paare mit Kindern wohnen nur wenige Minuten entfernt. „Wir sind hier im Kiez sozial eingebunden“, sagt Eva Lindermeir. Es sind auch diese Netzwerke, die das Leben in der kleinen Wohnung erträglich machen. Wenn die Kinder nach der Schule nicht beim Sport sind, sind sie oft bei FreundInnen. „Manchmal haben wir dann auch fünf oder sechs Kinder hier“, sagt Andreas Lindermeir. „Die Familie von Franks Freund wohnt zu viert in zwei Zimmern“, erzählt Eva Lindermeir. „Der kommt zu uns und sagt, hier sei viel Platz.“

Lindermeirs kennen die Leute in der Nachbarschaft gut. Eva Lindermeir zählt auf: Eine andere befreundete Familie hat ebenfalls zweieinhalb Zimmer für fünf Personen. Gegenüber wohnen sie sogar zu acht in genau so vielen Räumen. Und so weiter.

„Seit vier oder fünf Jahren sagen wir: Noch maximal ein Jahr, bis wir aufs Land ziehen“, sagt Eva Lindermeir und zuckt die Achseln. Sie hätten sogar mal auf ein Häuschen in Brandenburg geboten. „Es war aber doch sehr runtergekommen“, sagt sie. „Inzwischen bin ich ganz froh, dass wir den Zuschlag damals nicht bekommen haben.“

Einmal dachten sie, sie halten es nicht mehr aus. Die Enge. Keine Privatsphäre. Das permanente Aufeinanderhocken. „Dann haben wir uns einen VW-Bus gekauft“, sagt Eva Lindermeir und lacht auf. „Das gab uns das Gefühl, frei zu sein, reisen zu können.“ Raus, wann immer man will, wohin auch immer man will. Wie Aufatmen fühlte sich dieser Gedanke an. „Besser, als sich zu verschulden, um eine Wohnung zu kaufen“, schiebt Andreas Lindermeir nach.

Der Stresstest werde noch kommen, sind sich die Eltern sicher. Wenn der Älteste elf oder zwölf Jahre alt wird. „Momentan hat er sein Hochbett in dem kleinen Zimmer und ist damit glücklich. Aber wie lange noch?“, fragt Andreas Lindermeir und verzieht die Mundwinkel. Auch wie es mit der Schule weitergeht, wenn etwa die Hausaufgaben komplexer werden, fragen sich die Eltern. Frank und Nona machen ihre Schularbeiten gemeinsam an dem roten Tischchen im Wohnzimmer, eigene Arbeitsplätze in einem separaten Zimmer haben sie nicht. Die Familie hat Zeiten eingeteilt, in denen im Wohnzimmer Ruhe herrscht – wer keine Hausaufgaben zu machen hat, kann lesen oder basteln.

Arbeiten zwischen den Betten

„Richtig vorbereiten kann ich meinen Unterricht zu Hause nicht“, sagt auch Eva Lindermeir. Ihr Schreibtisch steht ist im Durchgangszimmer, eingeklemmt zwischen dem elterlichen Hochbett und dem von Tochter Nona. „Wenn sie eingeschlafen ist, kann ich schon noch mal Licht anmachen“, sagt sie. Außerdem habe sie noch die zwei freien Tage in der Woche, an denen sie die Schul- und Kitazeiten für ihre Unterrichtsvorbereitung nutzen kann. Einen Großteil mache sie aber in der Schule. „Aber wie das wird, wenn ich die Stunden mal wieder erhöhe?“ Die Frage bleibt vorerst unbeantwortet.

Die Lindermeirs mussten sich arrangieren. Irgendwann wird es nicht mehr gehen – weil die Kinder zu groß für die improvisierten Lösungen werden, oder aber, weil sich die Familie auch ihre kleine Wohnung nicht mehr leisten kann. Etwa 2.500 Euro monatlich hat die Familie zur Verfügung. Mit der neuesten Mieterhöhung liegen sie warm bei etwa 815 Euro im Monat. Damit geben sie schon jetzt fast ein Drittel ihres Einkommens allein für die Miete aus. „Vielleicht kann man mit den Vermieterinnen ja irgendwas aushandeln“, überlegt Eva Lindermeir. „Aber warum sollten sie uns was erlassen“, fragt Andreas Lindermeir. „Sie bekommen die Wohnung doch auf jeden Fall zu dem Preis los.“ Das Paar hat ein gutes Verhältnis zu den Vermieterinnen, und das soll auch so bleiben. „Wir wollen unbedingt in der Wohnung bleiben.“

„Wir müssen Dinge und auch uns selbst nach oben stapeln“, sagt Andreas Lindermeir Foto: Sebastian Wells

„Wer es sich leisten kann, bleibt“

In Berlin herrscht eine „harte Wohnungsnot“, sagt Sigmar Gude. Der Soziologe über zu wenig Leerstand, zu volle Wohnungen und rot-rot-grüne Pläne.

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taz.de: Herr Gude, in der Berliner Innenstadt bezahlbaren Wohnraum zu finden, ist inzwischen fast ein Ding der Unmöglichkeit. Aber was wird denn aus den „Weggentrifizierten“ – ziehen die alle in Großsiedlungen am Stadtrand?

Sigmar Gude: Man hat ja anfangs erwartet, dass die Ärmeren aus der Innenstadt dorthin verdrängt werden, wo es preiswert ist – also etwa an den Stadtrand. Im Zuge der Aufwertungsprozesse und ständig steigender Mieten hat sich die Situation aber im gesamten Stadtgebiet deutlich verschärft. Wir haben erstmals 2011 in unseren Untersuchungen festgestellt, dass es selbst in den Außenbezirken nicht mehr viel Leerstand gibt.

Sigmar Gude guckt in die Kamera
Sigmar Gude

ist Soziologe und Gründungsmitglied des Planungsbüros TOPOS. Er leitet dort den Bereich Stadtforschung und forscht seit rund 25 Jahren zum Thema Gentrifizierung in Berlin.

Aber in Gegenden wie Marzahn-Hellersdorf oder Teilen von Spandau sind die Mieten doch immer noch viel niedriger als in der Innenstadt.

Das ist richtig. Das liegt aber nicht daran, dass es dort noch freie Wohnungen gibt. Die Wohnungen dort gehören zu einem Großteil den Wohnungsbaugesellschaften, und die haben ein ganz anderes System zur Mietfestlegung. 2012 erzählte mir der Vertreter einer großen Wohnungsbaugesellschaft stolz, sie hätten in Treptow Wohnungen für 4,70 Euro pro Quadratmeter kalt. Aber als ich fragte, ob sie denn auch freie Wohnungen hätten, musste er verneinen. Der Anschein, „da draußen“ gäbe es etwas, weil die Miete billig ist, ist falsch.

Hinten am Horizont die Häuser der Potsdamer Platzes Foto: Sebastian Wells

Heißt das, dass die ganz Armen aus der Innenstadt schon in die Platten am Stadtrand gezogen sind?

Ein Teil der Wohnungen dort wurden sicher aufgefüllt von Menschen, die aus der Innenstadt weg- oder aber von außerhalb nach Berlin gezogen sind. Aber dieses Klischee, dass es am Stadtrand bald erste „Banlieues“ gibt, stimmt so nicht.

Wieso nicht?

Zwar sind die Wohnungsbaugesellschaften gegenüber dem Senat verpflichtet, zu einem gewissen Prozentsatz an Geringverdiener zu vermieten. Aber in Berlin ist es relativ einfach, einen Wohnberechtigungsschein zu bekommen.

Das heißt, es gibt auch Selbstzahler mit WBS?

Ja. Die Vermieter können aus einem großen Topf von Bewerbern wählen, darunter sind auch Selbstzahler. Das ist auch gut, eine vernünftig gemischte Siedlung ist ja sinnvoll. Doch für die Ärmsten der Armen ist am Stadtrand kein Platz mehr. Das sieht man schon daran, dass auch in den Großsiedlungen etwa in Spandau oder in Marzahn-Hellersdorf der Anteil der Hartz-IV-Bezieher weitestgehend im städtischen Durchschnitt liegt.

Okay, der Stadtrand ist also dicht. Wohin ziehen die Leute denn dann?

Die Leute ziehen gar nicht um – weil sie nichts mehr finden. Wer es sich irgendwie leisten kann, bleibt in seiner Wohnung, selbst wenn er mit einer unangenehmen Mieterhöhung konfrontiert ist. Die größte Gruppe der Wohnungssuchenden sind die Leute, die neu in die Stadt kommen. Dadurch wird der Wohnungsmarkt noch enger, der Konkurrenzkampf in der gesamten Stadt noch größer. Wer wirklich umziehen muss und finanziell nicht mithalten kann, muss dann notgedrungen in schlechtere Bestände ausweichen.

Was heißt das konkret?

Die Leute bleiben in ihren Quartieren, ziehen aber zum Beispiel in Wohnungen an lauten, viel befahrenen Straßen. Oder in dunkle Erdgeschosswohnungen im Hinterhof. In solchen Lagen sind die Mieten zwar gar nicht besonders niedrig – für die gegebene Wohnqualität sind sie sogar relativ hoch. Aber der Andrang von Menschen mit höheren Einkommen ist hier nicht so groß. Und wir haben noch ein anderes Problem identifiziert: Überbelegung. Also eine Wohnsituation, in der es weniger Wohnräume als Haushaltsmitglieder gibt.

Man rückt also zusammen?

Ja. Jeder braucht eine Wohnung, und wenn es keine bezahlbare Wohnung gibt, die groß genug ist, muss es eben auch so gehen. Besonders Familien, die Hartz IV beziehen, sind davon betroffen. Uns liegen Zahlen vor, nach denen in Berlin etwa 30.000 Kinder in gravierend überbelegten Wohnungen leben. Das heißt, mindestens zwei Zimmer weniger als Personen.

Weil es keine andere Möglichkeit gibt?

Ja. Die Quadratmeterzahl, die ein Hartz-IV-Empfänger real durchschnittlich zur Verfügung hat, ist zwischen 2006 und 2014 nochmals um zwei gesunken – und lag damit bei 28 Quadratmeter pro Person, neueste Zahlen zeigen, dass es inzwischen sogar noch weniger sind. Im Berliner Durchschnitt sind es dagegen 39 Quadratmeter.

Die Leute würden also gern umziehen, können aber nicht.

Richtig. Und da geht es nicht nur um freiwillige Umzüge. Im Jahr 2014 forderte das Amt 12.000 Hartz-IV-Haushalte auf, in eine günstigere Wohnung zu ziehen. Das haben nur 559 getan. 2015 sank ihre Zahl noch mal auf etwa 450. Es gibt einfach keine Alternativen, die mit dem Regelsatz zu bezahlen wären. Ohnehin müssen immer mehr Hartz-IV-Haushalte Geld für die Miete vom Lebensnotwendigen abknapsen.

Wenn die Leute in ihren Quartieren bleiben, ist dann „Verdrängung“ überhaupt der richtige Begriff?

Ich spreche deswegen von „innerer Verdrängung“, also der Verdrängung innerhalb des Quartiers in schlechte Bestände. Das ist der Moment, wo meiner Meinung nach echte Wohnungsnot beginnt. Vorher konnte man über Wohnungsknappheit oder -stress sprechen. Als Leute noch von einem Quartier ins nächste gezogen sind, war das sicherlich belastend – aber noch keine harte Wohnungsnot. Wir werden uns noch sagen hören: „Was waren das für tolle Zeiten, als in Marzahn-Hellersdorf noch Wohnungen frei waren.“

Spiel- und Skateplatz in Neukölln Foto: Sebastian Wells

Und was ist mit der Prognose, dass große Teile der Innenstadt bald „Hartz-IV-freie Zonen“ sein werden?

Unsere Untersuchungen haben etwa im als besonders hipp geltenden Neuköllner Schillerkiez gezeigt, dass viele Leute dort immer noch weit unterdurchschnittliche Einkommen haben. Neuköllns ehemaliger Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky hat sich seinerzeit mal ganz enttäuscht darüber geäußert, dass so wenig Gentrifier nach Neukölln kommen. Der dachte, das soziale Problem löst sich von allein und er bekommt einen schönen Mittelklassebezirk. Aber das wird so nicht sein, die Leute können ja nirgends hin. Die Unterschiede werden sich von Haus zu Haus zeigen – oder sogar innerhalb eines Hauses.

Nun liegt der Leerstand in Berlin bei etwa 1,7 Prozent. Das ist nicht viel – aber bei den vielen tausend Wohnungen in der Stadt doch auch nicht zu verachten.

Natürlich gibt es irgendwo auch mal freie Wohnungen. Aber ein funktionierender Wohnungsmarkt braucht eine „Fluktuationsreserve“ von etwa 3 Prozent Leerstand. Viele der leerstehenden Wohnungen werden modernisiert oder instand gesetzt und fallen damit vorübergehend aus. Von besonders viel „echtem“ Leerstand würde ich in Berlin nicht ausgehen.

Das heißt, es müssen mehr Wohnungen her?

Vor allem müssen mehr bezahlbare Wohnungen her. Wer da allein auf den durch die Nachfrage angetriebenen Markt hofft, täuscht sich. Denn frei finanzierten Neubau wird es nur geben, solange das sich für die Investoren lohnt. Und die versorgen zu Marktpreisen.

Das Thema „Wohnen“ hat im Berliner Wahlkampf eine riesige Rolle gespielt, die neue rot-rot-grüne Regierung hat „Wohnen“ als Grundrecht im Koalitionsvertrag verankert. Wird jetzt alles besser?

Die Einflussmöglichkeiten einer Landesregierung sind leider sehr, sehr gering. Wenn der Wohnungsmarkt jetzt stillstünde und es nicht weiter einen so massiven Zuzug gäbe, dann könnte man hier und da nach Stellschrauben suchen, um die Versorgung zu verbessern. Das Hauptproblem ist ja, dass in der Vergangenheit preiswerter Bestand nicht ausreichend geschützt wurde. Noch dazu sind die Sozialwohnungen nach und nach verschwunden. Schon die alte Senatsverwaltung hat versucht, die jetzt wieder stärker zu schützen, die neue will nun Wohnungen zukaufen. Ich bin da aber skeptisch. Beides kostet viel Geld, und die Konkurrenz durch Investoren ist groß.

Wird die neue Landesregierung also darüber stolpern, die Erwartungen so hoch geschraubt zu haben?

Ich hoffe natürlich, dass sie die Möglichkeiten, die sie hat, auch wirklich nutzt und umsetzt. Was die Gesamtentwicklung angeht, bin ich aber pessimistisch. Trotzdem war es richtig, Wohnen zum zentralen Wahlkampfthema zu machen. Das Problem muss ganz oben auf die Agenda.

Es handelt sich ja um ein gigantisches Problem. Der Stadtsoziologe und Gentrifizierungskritiker Andrej Holm hat der Stadt im Mai 2016 einen absoluten Wohnungsmangel von mindestens 125.000 Wohnungen attestiert.

Das kommt natürlich auf die Berechnung an, wir haben schon vor Jahren eine Zahl von 200.000 genannt. Aber wie viele es genau sind, ist vollkommen unwichtig. Es fehlen Wohnungen in einer solchen Größenordnung, dass jede Anstrengung gerechtfertigt ist. Gleichzeitig ist klar, dass wir immer hinter dem zurückbleiben werden, was aktuell benötigt wird. Und das vor allem, weil vor 15 Jahren die Zeichen der Zeit vollkommen falsch gedeutet wurden.

Grafiken: Svenja Bednarczyk, Quelle: Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen e. V. (BBU)/Amt für Statistik Berlin-Brandenburg

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