berlin viral
: Ganz spontane Events

Als Anfang März gefühlt alle nach „Lockerungen“ schrien, war ein Friseurbesuch plötzlich eine Frage der Würde. Bis dahin hatte ich das regelmäßige Haarspitzennachschneiden und meine Menschenwürde nicht in Übereinstimmung gebracht. Wurde jetzt aber von Olaf Scholz persönlich eines Besseren belehrt.

An einem kalten Samstag verließ ich mein warmes Zuhause, um ein paar systemrelevante Drogerieartikel zu besorgen. Auf dem Heimweg stand eine Schlange auf dem Gehweg – vor meinem Friseur. Ich stellte mich an. Ganz automatisch, ohne groß darüber nachzudenken. Es war kalt, vor mir nervten kleine Kinder.

Nach fündundvierzig Minuten in viel zu dünner Jacke und Turnschuhen in der Kälte war ich dran. Es war wie immer. Ein Würde-Gefühl stellte sich nicht ein. Ich fror. Dafür waren meine Haare ein paar Zentimeter kürzer. Ich gab 6 Euro Trinkgeld, wegen der Würde.

Am Abend hatte ich erhöhte Temperatur und ging früh ins Bett. Nachts träumte ich wirres Zeug: hatte ich mich beim Friseurbesuch mit Covid-19 angesteckt? Geht das wirklich so schnell?

Am nächsten Morgen war ich fieberfrei und freute mich über den vernünftigen Haarschnitt. Es ist nicht alles schlecht in diesen Tagen.

Später wurde mir klar, worum es eigentlich gegangen war, nämlich einfach mal was anderes zu erleben. Also: wenn das aufregendste Event ein Ausflug zu Rossmann ist, und dann kommt plötzlich eine völlig neue Option ins Spiel, greift man eben spontan zu.

Wenige Tage später treffe ich die Nachbarn im Hausflur. Sie haben ein neues Waschbecken gekauft. „Wie seid ihr denn in diesen Baumarkt gekommen?“, frage ich interessiert.

Ach, da gebe es so online buchbare Slots, das sei ganz easy. Aha.

Kurz darauf, die Infektionszahlen steigen wieder deutlich, geht es plötzlich um die Corona-Notbremsen: Kein Präsenzunterricht für die Klassen 7–9 (mein Sohn atmet hörbar auf), alle Lockerungen zurücknehmen. Man hört ja immer nur noch so halb hin. Siedendheiß fällt mir plötzlich ein, dass ich in den Osterferien Schrank und Türen streichen will, aber noch gar keine Farbe habe. Rasen muss auch nachgesät werden. Und der Balkon bepflanzt. Schnell für den Folgetag, 17.40 Uhr, einen Baumarkt-Slot buchen!

Den ganzen nächsten Tag bin ich in freudig-gespannter Erwartung: Wie es wohl wird? Die ausgedruckte Buchungsbestätigung und Brille lege ich schon mal auf den Küchentisch.

Dann kommt einiges dazwischen, und plötzlich ist es halb sechs. Jetzt aber zügig rauf aufs Fahrrad und ab durch den schlammigen Park. Vor dem Laden dann der Schock: ich hab alles vergessen, außer meinem Geld. Der Mann am Eingang glaubt meinen Beteuerungen, wirklich einen Termin gebucht zu haben. Ich trage mich in die Liste ein – und zack: bin ich drin. Staunend sehe ich mich um. So muss sich 1989 der erste Westbesuch angefühlt haben.

Selbst ohne Brille sehe ich, dass das „Cremeweiß“ fast ausverkauft ist bis auf eine große Dose. Ich disponiere dreimal hin und her. Schnell in die Gartenabteilung, dann zügig zur Kasse. Zurück auf dem Parkplatz ist mir ganz schwindelig. Habe ich wirklich gerade knapp 100 Euro für Acrylfarbe und Balkonpflanzen ausgegeben?

„Du kannst die ja weiterverkaufen, wenn die Läden wieder zu sind“, sagt der Kollege.

Vielleicht buche ich heute gleich noch einen Slot. Gaby Coldewey