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Pandemiebekämfung in HamburgDie soziale Seite von Corona

Bei der Pandemiebekämpfung wurde bisher kaum nach sozialen Stadtteilkriterien differenziert. Das soll sich jetzt ändern.

Gehören zum Präventionsprogramm: Schnelltest zur Identifikation Infiszierter Foto: Jörg Carstensen/dpa

Hamburg taz | Es hat gedauert, doch nun gibt es den Paradigmenwechsel. Hatte der Senat bislang argumentiert, dass der Wohnort von Corona-Infizierten in Hamburg keine große Rolle spiele, weil die innerstädtische Mobilität zu hoch sei, kam es vergangene Woche zur Kehrtwende. Wie im März von der Linkspartei gefordert, soll die Pandemie-Prävention nun stärker stadtteilspezifisch stattfinden.

Am Donnerstag beschloss die Bürgerschaft einen Antrag der rot-grünen Koalition, dass die sozial schlechter gestellten Stadtteile mehr Informationen, mehr Hilfsangebote und kostenlose Masken erhalten sollen, um die Corona-Ausbreitung gezielt einzudämmen.

„In Stadtteilen, wo häufiger beengte Wohnverhältnisse herrschen und die Erwerbsarbeit seltener im Homeoffice ausgeübt werden kann, sind die Ansteckungsraten inzwischen stark erhöht, das macht es notwendig, dass gezielt lokal reagiert wird“, hat Gudrun Schittek, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, inzwischen erkannt: „Deshalb verstärken wir im ersten Schritt die bereits erfolgreich arbeitenden mehrsprachigen und aufsuchenden Initiativen und Projekte vor Ort.“

Bereits Ende März hatte die Linksfraktion in der Bürgerschaft beantragt, dass Be­hör­den­mit­ar­bei­te­r*in­nen als sogenannte Coronaguides die Menschen in den betroffenen Stadtteilen verstärkt informieren sowie FFP2-Masken und Schnelltests mobil anbieten. Der Antrag wurde in den Bezirks­ausschuss überwiesen, wo die Regierungskoalition das Haar in der Suppe suchte und fand.

So monierten laut Ausschussprotokoll die Grünen, dass es nicht – wie von der Linken gefordert – „Sache der überlasteten Gesundheitsämter“ sein könne, „sogenannte Corona-Guides zur Aufklärung einzusetzen“.

Rot-Grün lehnte deshalb den Linken-Antrag ab, um ihn im neuen Gewand – sprachlich überarbeitet und inhaltlich erweitert – vergangenen Donnerstag unter eigenem Copyright zu beschließen. „Es ist gut, dass die Regierungsparteien unseren Antrag zum Anlass genommen haben, heute ganz Ähnliches einzufordern“, kommentiert die Linken-Fraktionschefin Sabine Boeddinghaus bittersüß und ergänzt: „Noch besser wäre es aber gewesen, wenn Rot-Grün vor 14 Tagen unserem Antrag einfach zugestimmt hätte – denn dann wären solche Coronaguides jetzt schon auf der Straße.“

Das Problem: Tatsächlich gibt es keine offiziellen Daten, wie sich das Infektionsgeschehen in welchen Stadtteilen entwickelt – der Senat untergliedert die Zahlen offiziell nur nach Bezirken. Danach wies Hamburg-Mitte zuletzt eine Inzidenz von über 200 auf, während der Bezirk Eimsbüttel unter der 100-Schwelle lag.

Doch innerhalb der Bezirke gibt es große Unterschiede: Nach einer Datenanalyse des NDR-Hamburg-Journals auf Grundlage von Zahlen der Sozialbehörde und des Statistikamts Nord ist seit Beginn der Pandemie die Zahl der Corona-Infektionen in Neuenfelde, Heimfeld, Harburg – alles Stadtteile des Bezirks Harburg – sowie auf der Veddel, in Wilhelmsburg, Bill­stedt, Horn, Rothenburgsort und Hammerbrook (alle Hamburg Mitte) sowie Billwerder oder auch Neuallermöhe (beide Bezirk Bergedorf) besonders hoch.

Mögliche Gründe für die soziale Schlagseite der Pandemie haben Ärz­te*innen, Po­li­ti­ke­r*in­nen und Sozialverbände zusammengetragen: Beengte Wohnverhältnisse, die die Ansteckungsgefahr erhöhen, Sprachbarrieren, die die Informationsaufnahme erschweren, Jobs, die nicht im Homeoffice erledigt werden können oder auch mangelnde Gesundheitsvorsorge.

SPD und Grüne fordern jetzt in ihrem Antrag eine regelmäßige Erhebung des Pandemiegeschehens in den Stadtteilen, um auf dieser Datenbasis die lokalen Präventions- und Aufklärungsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Pandemie zu verstärken. Gut ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie ist damit die soziale Dimension der Pandemie auch in der Koalition angekommen.

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