Viele Ungereimtheiten in Northeim

Hätte sich weiterer Missbrauch verhindern lassen, wenn die Polizei anders auf Hinweise des Jugendamtes Northeim reagiert hätte? Und was muss man tun, damit so etwas nicht wieder passiert? Das sind die Kernfragen in diesem sogenannten Polizeiskandal. Doch die bisherige Aufklärung wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet

Inzwischen ist gegen zwei des Missbrauchs Verdächtige aus Northeim Anklage erhoben – doch viele Fragen zu Ermittlungspannen sind noch unbeantwortet Foto: Swen Pförtner/dpa

Von Nadine Conti

Susanne Menge (Grüne) denkt nicht daran, aufzugeben. Es gibt Landtagsanfragen, die stellt eine Oppositionspartei eher, weil sie eine Chance wittert, die Landesregierung vorzuführen. Es gibt Anfragen, die sind ein Schaulaufen für die eigenen Leute. Und es gibt Anfragen, die zeigen, dass jemanden ein Thema nicht mehr loslässt.

So eine Anfrage ist die von Susanne Menge und Volker Bajus (Grüne) zu den „Versäumnissen der Polizeiinspektion Northeim bei mutmaßlichen Fällen von schwerem sexuellen Missbrauch an Kindern mit Verbindungen zu den Missbrauchsfällen in Lügde“. 25 detaillierte Fragen, die der Landesregierung offenbar ein bisschen zu knobeln gaben. Man erbat sich gleich einmal eine Fristverlängerung zur Beantwortung. Jetzt liegt die Antwort auf die Mitte Februar gestellte Anfrage vor.

Seit 50 Jahren beschäftige sie sich mit dem Thema Kinderschutz und mit sexualisierter Gewalt, sagt Susanne Menge. Es habe sich manches zum Besseren geändert in dieser Zeit. Aber diese Geschichte zeige doch einmal wieder, dass es noch lange nicht reicht.

Es ist ein Skandal im Skandal, könnte man sagen. Ein weiterer Ausläufer des Geschehens in Lügde. Lange Zeit hat man sich in Niedersachsen vor allem damit befasst, was im Jugendamt in Hameln schiefgelaufen ist, das einem über 50 Jahre alten Mann, der auf einem Campingplatz haust, ein Kindergartenkind zur Pflege anvertraut.

Grüne und FDP wollten damals einen Untersuchungsausschuss einrichten, konnten sich aber nicht durchsetzen. Stattdessen gibt es jetzt eine Enquete-Kommission, die Vorschläge zur Verbesserung des Kinderschutzes in Niedersachsen erarbeiten soll. Aber auch die, sagt Susanne Menge, wäre ihren Arbeitsauftrag ja vielleicht anders angegangen, wenn sie geahnt hätte, dass das Jugendamt nicht die einzige Behörde war, in der ganz offenkundig etwas schiefgelaufen ist.

Schon im März und April 2019 erhielt die Polizeiinspektion (PI) Northeim Hinweise auf zwei Männer, die im Verdacht stehen, ihre eigenen und fremde Kinder zu missbrauchen.

Einer dieser Hinweise kam von einem der Opferanwälte, weil das Kind auch auf dem Campingplatz in Lügde missbraucht worden war. Die zweite Quelle war das Jugendamt in Northeim, das die Kinder für schwer gefährdet hielt und um Ermittlungen bat. Und das tat es nicht nur einmal, sondern mehrfach – so stellte es jedenfalls das Innenministerium im Februar 2021 dar.

Die PI Northeim leitete diese Hinweise an die „Besondere Aufbauorganisation (BAO) Eichwald“ bei der Polizei Bielefeld weiter, die sich mit den Ermittlungen in Lügde befasste. Es soll eine entsprechende Verfügung der übergeordneten Polizeidirektion Göttingen gegeben haben. Das ist ein übliches Vorgehen, so versucht man, belastende Mehrfachvernehmungen der Opfer zu vermeiden.

In diesem Fall kam allerdings aus der BAO Eichwald schnell die Rückmeldung, dass die Namen dieser Familien zwar bekannt seien, erste Vernehmungen aber keine Hinweise darauf ergeben hätten, dass die Väter am Missbrauch auf dem Campingplatz beteiligt wären – es werde daher vorläufig keine weiteren Ermittlungen in dieser Richtung geben.

Und spätestens an diesem Punkt – so stellte es zumindest der niedersächsische Polizeipräsident Axel Brockmann in den Ausschüssen dar – hätte die PI Northeim selbst tätig werden müssen. Tat sie aber nicht. Elf Monate lang passierte nichts. Und die betroffenen Kinder blieben den Männern ausgeliefert. Zu wie vielen Taten es in diesem Zeitraum kam, will das Ministerium mit Verweis auf die laufenden Strafverfahren in der Antwort auf die Landtagsanfrage nicht sagen.

Auf dem niedersächsischen Radar taucht der Fall anscheinend erst im März 2020 wieder auf. Da gibt die Staatsanwaltschaft aus dem nordrhein-westfälischen Detmold das Verfahren gegen Walter S. aus Dassel im Landkreis Northeim an die Staatsanwaltschaft Göttingen ab. Am 4. März 2020 kommt es zu einer Hausdurchsuchung und schließlich der Verhaftung des 49-Jährigen, weil bei weiteren Ermittlungen in Lügde doch noch belastendes Material aufgetaucht ist. Mittlerweile steht S. vor dem Landgericht Göttingen, vorgeworfen wird ihm schwerer sexueller Missbrauch an fünf Mädchen im Alter zwischen 6 und 13 Jahren.

Gegen einen weiteren Mann, Matthias K., ebenfalls Familienvater aus dem Landkreis Northeim, hat die Staatsanwaltschaft Göttingen auch Anklage erhoben, über die Eröffnung des Verfahrens ist aber noch nicht entschieden. Er ist noch auf freiem Fuß, das Jugendamt hat im Mai 2020 allerdings sein Kind in Obhut genommen.

Politisch brisant ist nun, dass es offensichtlich sehr unterschiedliche Wertungen der Vorgänge gibt. Schon im Juni 2020 wird im Innenministerium in Abstimmung mit dem Landespolizeipräsidenten eine Prüfgruppe eingesetzt, aber erst im Februar 2021 werden die Ausschussmitglieder unterrichtet. Zu diesem Zeitpunkt verorten der Landespolizeipräsident Axel Brockmann und das Innenministerium die Verantwortung ganz klar in Northeim und Göttingen. Brockmann spricht von „schweren Versäumnissen“.

Susanne Menge, niedersächsiche Landtagsabgeordnte (Grüne)

Als Göttingens Polizeipräsident Uwe Lührig Ende Februar überraschend in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wird, glauben viele an einen Zusammenhang – obwohl der Innenminister zu den Gründen beharrlich schweigt. Widerspruch kommt überraschenderweise von den Opferanwälten, die dem NDR gegenüber erklären, die Polizeibeamten in Northeim seien ausgesprochen engagiert gewesen und hätten saubere Arbeit geleistet. Mit der Opferbetreuung waren die Northeimer die ganze Zeit befasst, auch wenn sie keine eigenen Ermittlungen anstellten.

Als Ende März auch noch die Staatsanwaltschaft Göttingen mitteilte, ihre Prüfung habe keine strafrechtlich relevanten Fehler oder Versäumnisse ergeben, forderten Polizeigewerkschaften den Rücktritt von Innenminister Boris Pistorius: Er habe die Kollegen in Northeim zu Unrecht an den Pranger gestellt.

Sind die Northeimer also bloß Bauernopfer für Dinge, die auf einer ganz anderen Ebene schiefgelaufen sind? Diese Frage ist vor allem dann relevant, wenn man auf die Konsequenzen schaut. Die Erfahrung mit weiteren Mammutverfahren wie den Missbrauchskomplexen in Bergisch-Gladbach oder Münster zeigt ja, dass dies immer wieder vorkommt: Täter, die sich verabreden und austauschen, über Landesgrenzen hinweg. Es wäre wichtig, hier zu gesicherten Verfahren zu kommen.

Aber wenn es in der Landtagsanfrage darum geht, werden die Antworten bemerkenswert wolkig: „Weiterführende erkannte Aspekte bei länderübergreifenden Lagen wie ein entsprechendes Monitoring, ein standardisierter Informationsaustausch, der Einsatz von Verbindungsbeamten sowie ein enger Informationsaustausch zwischen Polizei und Jugendamt werden in der PD Göttingen noch stärker in den Fokus der Umsetzung gestellt.“

Viele zentrale Fragen bleiben unbeantwortet, immer mit dem Hinweis, „diese Fragestellung ist Bestandteil der gegenwärtigen Überprüfung der Polizeidirektion Göttingen“. Und das, obwohl sich im Ministerium schon eine Expertengruppe über ein halbes Jahr lang mit den Vorgängen auseinandergesetzt hat.

Die Opposition aus Grünen und FDP hat angesichts der Widersprüche Akteneinsicht beantragt. Zu ihrer Überraschung übernahmen SPD und CDU die Forderung – unter anderem nach einer Intervention des Ex-Innenministers Uwe Schünemann (CDU). „Das ist auch ein Novum,“ sagt Susanne Menge, „dass Regierungsparteien von ihrer eigenen Landesregierung Akteneinsicht fordern.“