Aus Potsdam in den Bundestag: Ihr Ziel sind 50.000 Stimmen

Die Parteilose Lu Yen Roloff will das Potsdamer Direktmandat erobern. Für sie macht es Sinn, jetzt Wahlkampf zu machen.

Lu Yen Roloff in Potsdam

Die Klimaaktivistin Lu Yen Roloff will in den Bundestag Foto: Manuela Clemens

POTSDAM taz | Lu Yen Roloff stößt schwungvoll die Tür auf. Ihr rötlicher Pony leuchtet in der Märzsonne, als sie aus dem Potsdamer Rechenzentrum tritt. Sie hat es eilig: Gleich hat sie ein Treffen mit Unterstützer*innen, Mitte April muss die Onlineplattform stehen, in sechs Monaten ist Bundestagswahl, und sowieso bleibt nicht mehr viel Zeit, die Klimakatastrophe aufzuhalten.

Für Potsdam, Kleinmachnow, Michendorf, Nuthetal, Schwielowsee, Stahnsdorf, Teltow, Werder. und Ludwigsfelde will Roloff ins Parlament – als parteilose Kandidatin. Ihre Kon­kur­ren­t*in­nen um das Direktmandat: SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz und Grünen-Chefin Annalena Baerbock. Hat eine Unabhängige gegen solche Parteiprominenz überhaupt eine Chance? Das ist für Roloff die falsche Frage. Sie kandidiert, weil sie muss. Weil die Zeit läuft.

„Laut Pariser Abkommen haben wir weniger als sieben Jahre, wenn wir das 1,5-Grad-Limit nur knapp überschreiten wollen“, erklärt die 43-Jährige auf dem Weg durch Potsdams Innenstadt. Ihr Schritt ist so flott und energisch wie ihre Sätze. „Aus Angst, dass sie an Macht verlieren, spricht keine der Parteien diese unbequeme Wahrheit aus.“

„Sagt die Wahrheit!“, das war schon als Extinction-Rebellion-Sprecherin Roloffs Botschaft. Mit Extinction Rebellion besetzte sie Brücken, blockierte sie Straßen, störte sie den Alltag anderer Menschen: ziviler Ungehorsam, um auf den drohenden Klimakollaps aufmerksam zu machen. Wie Fridays for Future, nur weniger anständig.

Jünger als der Durchschnitt

Dann kam Corona – und machte vorerst Schluss mit Massenprotesten. Doch die Klimakrise drängt weiterhin, auch wenn sie gerade von der Gesundheitskrise überlagert wird. Die gelernte Journalistin Roloff entscheidet sich für den Weg eines Wahlkampfs, um die Klimafrage 2021 wieder präsenter zu machen.

Auch zu Corona hat sie eine Meinung: „Die Regierung agiert eher als Feuerlöscher“, sagt die gebürtige Bielefelderin und hält auf dem Platz der Einheit kurz inne. „Dabei hätte die Krise auch zu einer echten Klimachance werden können.“ Roloff kennt sich aus, sie studierte 2003 in Hongkong, als dort Sars-Cov-1 ausbrach. 2007 veröffentlichte sie eine Studie darüber, wie die lokale Regierung mit der Sarskrise umging.

Jetzt, beim Wahlkampf, wird Roloff von Brand New Bundestag unterstützt. Nach einem US-amerikanischem Vorbild fördert der Verein progressiven politischen Nachwuchs und will das Parlament diverser machen. Roloff würde den Frauenanteil heben und ist jünger als der Durchschnitt der Abgeordneten. Mit der Kategorie „Migrationshintergrund“ aber kann sie nichts anfangen, obwohl ihre Mutter in China geboren ist. „Lu Yen, so heißen Deutsche heute eben“, sagt sie. Sie will vor allem die Klimabewegung ins Parlament bringen.

25.000 Studierende erreichen

Aber was heißt das? Würde sie der Bewegung auch die Reichstagstüren öffnen? Würde sie ihrer Wahrheit zuliebe parlamentarische Regeln verletzen? Roloff antwortet nur indirekt. „Die eigentliche Frage ist doch: Was hat dieses Gebäude mit der Lebenswelt von Menschen zu tun?“ Demokratie sei mehr, als nur alle vier Jahre zur Wahl zu gehen. Man müsse Leute zu politischer Teilhabe befähigen, sie in ihrer Lebenswelt aufsuchen.

Doch spielen Roloffs Themen überhaupt eine Rolle in der Lebenswelt von Menschen in der Mittelmark? Die Kandidatin ist überzeugt davon. Wer sehe, wie der Seddiner See dramatisch schrumpfe, weil sich das Grundwasser zurückziehe, könne Umweltfragen nicht länger ignorieren.

Auf den Stufen des Barberini-Museums am Havelufer trifft Roloff jetzt fünf junge Unterstützer*innen. Es ist das erste physische Treffen, im Freien, mit Abstand. Die Atmosphäre ist freundschaftlich, aber konzentriert. „Lassen sich FFP-Masken mit dem Kampagnenhashtag bedrucken?“, wird überlegt. #EinfachMachen ist Roloffs Slogan. Auch wie sich die 25.000 Studierenden Potsdams erreichen lassen, ist bei der Besprechung Thema.

Die Zeit scheint gerade günstig

50.000 Stimmen müsste Roloff für das Direktmandat auf sich vereinen. Kann ihr das gelingen? Seit 1949 sind keine Parteilosen mehr in den Bundestag gewählt worden. Und seit der Wiedervereinigung ging das Direktmandat im Wahlkreis 61 fast immer an die SPD.

„Die Grünen werden auch hier immer wichtiger“, sagt Isabel Glitschka nach dem Teamtreffen. Die 29-Jährige gebürtige Potsdamerin hat über ihren Bruder von der Kandidatur erfahren und unterstützt nun seit zwei Monaten ehrenamtlich Roloffs Wahlkampf. Nicht nur die Studierenden, sondern auch junge Familien und die Zugezogenen in der Region würden vieles infrage stellen, erzählt sie. Wer mit der Erststimme Roloff wähle, könne die Grünen noch immer mit der Zweitstimme näher an die Regierung bringen. „Für viele wirkt das vielleicht naiv“, sagt Glitschka. „Ich finde Lu Yens Engagement aber gut. Sie hat Humor, sie nimmt die Politik selbst ernst und nicht ihre Karriere.“

Die Zeit scheint angesichts der jüngsten Korruptionsfälle günstig für eine Anti-Establishment-Kandidatur. „Wir sehen jetzt, was alles falsch läuft in der Politik“, rief Roloff beim kleinen Potsdamer Klimastreik am 19. März ins Mikrofon. „Wie Po­li­ti­ke­r*in­nen ihre Ämter missbrauchen, um sich persönlich zu bereichern.“ Manche im Wahlkreis 61 werden sich vielleicht daran erinnern, dass Potsdams bislang einzige CDU-Abgeordnete Katherina Reiche ihr Mandat 2015 abgab, um in die Lobbyarbeit zu gehen.

Das Mandat ist nicht alles

Trotzdem weiß Roloff, dass ihre Chancen gering sind, tatsächlich in den Bundestag einzuziehen. Das Mandat ist für sie aber nicht alles. Mitte April soll eine Organizing-Plattform online gehen, für den Wahlkampf, langfristig aber für Potsdamer Projekte.

Gemeinsam mit dem Ernährungsrat, einigen Kirchengemeinden, Fridays for Future und anderen Initiativen soll über die Plattform ein Bür­ge­r*in­nen­fes­ti­val organisiert werden. „Neustart Potsdam“ soll es heißen und Ende Mai stattfinden. Und: Roloff will, dass Potsdam Teil der Initiative Cities for Change wird. Es gibt also viel zu tun, und die Zeit ist knapp. Roloff lacht auf und sagt noch: „Gut, dass ich gerade Single bin.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.