Protestbewegung in Algerien: Der „Hirak“ formiert sich neu
Nach einem Jahr Zwangspause meldet sich Algeriens Protestbewegung zurück. Tausende gingen am Montag gegen das Militär auf die Straße.
![Demonstrierende Menschen in Algerien. Demonstrierende Menschen in Algerien.](https://taz.de/picture/4699051/14/26874858-1.jpeg)
Allen voran in Tizi Ouzou, Béjaia und Bouira sowie in Bordj Bou Arreridj in der Region Kabylei, einer Hochburg der Opposition, zogen zehntausende Regierungsgegner:innen durch die Straßen und forderten lautstark einen „zivilen Staat, keinen militärischen“.
Auch in der Hauptstadt Algier und mehreren Städten in West- und Ostalgerien versammelten sich erstmals seit März 2020 jeweils mehrere Tausend Menschen. Trotz Demonstrationsverboten und eines Großaufgebots der Polizei machten sie ihrer Wut über das autoritäre Regime Luft.
Damit hat die im Land meist „Hirak“ (Arabisch für „Bewegung“) genannte Protestbewegung Antworten auf viele offene Fragen geliefert. Seit Monaten war unklar, ob sie in der Lage sein würde, erneut nennenswert auf Algeriens Straßen zu mobilisieren. Seit Montag ist nun klar: Die Bewegung hat die schmerzhafte Zwangspause überstanden und dürfte in den kommenden Tagen und Wochen mit weiteren Massenprotesten für Schlagzeilen sorgen. Schon für Dienstag wird mit neuen Protesten gerechnet.
Neuer Impuls
Angefangen hatte der friedliche Volksaufstand vor genau zwei Jahren am 22. Februar 2019. Die umstrittene Kandidatur des damals seit zwanzig Jahren regierenden greisen Ex-Staatschefs Abdelaziz Bouteflika für die im April 2019 geplante Präsidentschaftswahl hatte das Fass zum Überlaufen gebracht und die Menschen auf die Straße getrieben.
Innerhalb weniger Tage mauserten sich die ersten Spontanproteste gegen Bouteflika zu einer landesweiten Massenbewegung, die fortan mit fast täglichen Demonstrationen das Regime unter Druck setzte. Sechs Wochen später zog die Armee die Reißleine, zwang Bouteflika zum Rücktritt und übernahm hinter den Kulissen die Macht.
Doch der Hirak gab sich mit den unter der Ägide des Militärs durchgesetzten kosmetischen Personalwechseln an der Staatsspitze nicht zufrieden und demonstrierte weiter – bis zum Ausbruch der Covid-19-Krise. Um der Pandemie nicht zusätzlich Vorschub zu leisten, stellte der Hirak im März 2020 nach 13 Monaten ununterbrochener Massenmobilisierung seine allwöchentlichen Proteste ein, eine Entscheidung, die das Regime unmittelbar auszunutzen versuchte.
Seither hagelt es förmlich Repressalien. Hunderte Aktivist:innen, Demonstrant:innen, Oppositionelle und Journalist:innen wurden verhaftet, interniert, vor Gericht gezerrt und unter meist fadenscheinigen Anschuldigungen zu teils hohen Haftstrafen verurteilt.
Dem Hirak waren seit Ausbruch der Pandemie die Hände gebunden, hatte die Bewegung doch durch ihre selbst auferlegte Protestpause ihr wirkungsvollstes Druckmittel auf Eis gelegt. Mehrere Versuche, die Bewegung wiederzubeleben, waren in den letzten Monaten fehlgeschlagen. Der Hirak brauchte einen neuen Impuls. Der zweite Jahrestag der ersten landesweiten Massenproteste gegen Bouteflika am Montag war ein solcher Anstoß.
Verschlechterte soziale Lage
Wie es nun weitergeht, ist unklar. Präsident Abdelmajid Tebboune hat angesichts der erneuten Proteste am Sonntag die Nationalversammlung aufgelöst und die Regierung umgebildet. Premierminister Abdelaziz Djerad bleibt nach Angaben des Präsidialamtes jedoch im Amt. Zuvor hatte Tebboune eine Neuwahl des Parlaments angekündigt. Gerechnet wird mit einem Wahltermin im Juni.
Zudem hat die Regierung in den vergangenen Tagen Dutzende politische Gefangene freigelassen, unter anderem den seit fast einem Jahr inhaftierten prominenten Journalisten Khaled Drareni. Offenbar versucht die Staatsführung damit, die Gemüter zu beruhigen.
Sollte der Hirak in den nächsten Wochen jedoch auch nur annähernd so stark auftreten wie 2019, wird das Regime deutlich mehr anbieten müssen, um die Büchse der Pandora im Land wieder zu schließen.
Der Hirak könne sogar noch stärker werden als zuvor, meint der Politikwissenschaftler Rachid Ouaissa von der Universität Marburg. „Die Proteste 2019 waren vor allem von der Mittelschicht getragen. Das könnte sich nun ändern, denn seither hat sich die soziale Lage in Algerien massiv verschlechtert und selbst Teile der Mittelschicht rutschen angesichts der heftigen Preissteigerungen für Lebensmittel in die Armut ab“, so Ouaissa in einer von algerischen Aktivisten in Berlin organisierten Podiumsdiskussion am Sonntag. Ein Ende der Proteste dürfte damit in weiter Ferne liegen.
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