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Eine Heldin der besonderen Art

Anne Hathaway, Shakespeares eigenwillige Ehefrau, steht im Mittelpunkt von Maggie O’Farrells Roman „Judith und Hamnet“

Von Renate Kraft

Die Tochter Susanna kam sechs Monate nach der Hochzeit zur Welt. William Shakespeare, der spätere Dramatiker, aber einstweilen lediglich Absolvent der Lateinschule, hatte im zarten Alter von 18 Jahren und nach einem sehr eiligen Aufgebot im Winter 1582 die um acht Jahre ältere Anne Hathaway geheiratet, die im folgenden Frühjahr niederkam. Auf Susanna folgten 1585 die Zwillinge Hamnet und Judith. Wohl im gleichen Jahr ging der junge Ehemann ohne seine Familie nach London, wurde dort ein erfolgreicher Schauspieler und lebte – in den Worten Virginia Woolfs – „im Mittelpunkt des Universums“. Wer immer diese Geschichte hörte, hat sich sein oder ihr Teil dazu gedacht.

Die britische Autorin Maggie O’Farrell hat sich ihr eigenes Teil gedacht. Ihre „Agnes“ (wie sie Anne in Anlehnung an das väterliche Testament nennt) ist die treibende Kraft hinter Shakespeares Übersiedlung nach London: Sie will nicht länger zusehen, wie ihr Ehemann in der Provinz versauert.

Auch die voreheliche Schwangerschaft hat sie planvoll ins Werk gesetzt, um die Liebesheirat mit dem bei ihrer Familie wenig angesehenen „Lateinjungen“ zu erzwingen. Wie alle Mutmaßungen zu Anne Hathaway und zu ihrer Geschichte mit William Shakespeare ist auch O’Farrells Roman blanke Fiktion, hineingeschrieben in die vielen Leerstellen der historischen Überlieferung.

Die eigenwillige Agnes ist eine Heldin der besonderen Art: Sie trägt einen gezähmten Turmfalken auf dem Arm, sie verschwindet für lange Wanderungen in den Wald und sie hat das zweite Gesicht – eine „unchristliche“ Fähigkeit, wie ihr Bruder befindet. Mit ihren selbstgebrauten Kräutertees und -tinkturen macht sie dem örtlichen Arzt Konkurrenz. Und sie liebt mit großer Intensität. Neben ihr verblasst der junge Ehemann nicht nur deswegen, weil er sich meist außerhalb des narrativen Fokus aufhält.

Die Machtverhältnisse in der englischen Provinz des 16. Jahrhunderts nimmt die Autorin genau in den Blick: Eltern zögern nicht, ihre erwachsenen Kinder zu schlagen, Väter (ersatzweise der älteste Bruder) entscheiden über die Zukunft von Söhnen und Töchtern. Das öffentliche Ansehen ist ein prekäres Ding, und um den Ruf einer jungen Frau zu retten, wird schon mal eine hohe Mitgift gezahlt. Agnes praktiziert die List der Schwachen. Damit ihr Ehemann nach London gehen kann, setzt sie ihren Bruder ein. Er überredet den alten John Shakespeare, seinen Sohn als Handelsvertreter für den Familien­betrieb in die Hauptstadt zu schicken.

Bei aller peniblen Rekonstruktion vergangener gesellschaftlicher Zustände geht es diesem Roman jedoch vor allem um die Erfindung eines einzelnen Frauenlebens. Mit ihrer bewährten Mikroperspektive auf sinnliche Details beschreibt O’Farrell in langen Erzählbögen Agnes’ Kindheit, ihre Liebesgeschichte mit dem „Lateinjungen“, ihren Alltag als junge Ehefrau, die Geburten der Kinder: ein bei allen Widrigkeiten gelingendes Leben. Doch dann erkranken die beiden jüngeren Kinder an der Pest und nach einer dramatischen Nacht, in der Judith sich unvermutet erholt, stirbt Hamnet.

Die Schilderungen vom Gebären und Sterben in diesem Roman gehören zum Besten, was Maggie O’Farrell in den rund zwanzig Jahren ihres literarischen Schreibens verfasst hat. Vom Schmutz und Gestank der Geburt ist die Rede, vom Ansturm der Wehen und vom Entzücken beim Anblick des neugeborenen Kindes. Von den mit Pestbeulen übersäten Körpern der Sterbenden und den schwarz verfärbten Fingern, die ihnen von den Händen abfaulen. Von der hilflosen Trauer der Überlebenden. Erstaunlicherweise wirkt der Roman dennoch nicht schwer oder gar schwermütig.

Maggie O’Farrell: „Judith und Hamnet“. Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag. Piper Verlag, München 2020, 416 Seiten, 22 Euro

Nach Hamnets Begräbnis setzt ein bruchstückhaftes Erzählen ein. Dies und jenes passiert, augenscheinlich ohne inneren Zusammenhang. Während Agnes in Stratford von einem Tag zum nächsten lebt, schreibt ihr Ehemann aus London kurz angebundene Briefe. In dürren Worten kündigt er an, dass er mit seiner Theatertruppe eine Komödie aufführen wird. Die verwaisten Eltern entfremden sich immer mehr voneinander. Bis Agnes am Schluss des Romans nach London reist, um die neue Tragödie „Hamlet“ zu sehen, die William geschrieben und auf die Bühne gebracht hat. Darin stirbt ein Vater und sein Sohn lebt weiter.

Ach, hätte die Autorin es doch bei dieser vielsagenden Inhaltsbeschreibung belassen! Aber sie muss erklären, ihre Botschaft überdeutlich ausbuchstabieren: Der Geist im Drama hat „getan, was sich jeder Vater gewünscht hätte“, das Leiden seines Kindes selbst zu übernehmen, „sich selbst anstelle des Sohnes zu opfern“. Hält O’Farrell ihre Le­se­r:in­nen wirklich für so begriffsstutzig?

Insgesamt jedoch ist „Judith und Hamnet“ ein sehr gelungener Roman. Die Autorin folgt den Gedanken und Gefühlen ihrer Figuren mit großer Genauigkeit und Sensibilität; Sprache und Atmosphäre lassen sich ohne Übertreibung poetisch nennen. Der Übersetzerin Anne-Kristin Mittag ist es auf beeindruckende Weise gelungen, den ganz eigenen Ton des englischen Originals auch im Deutschen herzustellen.

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