Moskau ist nicht Minsk

Die Proteste in Russland und Belarus unterscheiden sich voneinander. In Minsk sind große Teile der Bevölkerung dabei, in Moskau nicht

Eine Gruppe junger Leute steht an einer Hauswand im Zentrum Moskaus. Die Frauen und Männer heben ihre Arme und skandieren: „Wir haben keine Waffen!“ Omon-Sonderpolizisten kreisen sie ein, drängen sie zur Seite, prügeln mit ihren Schlagstöcken auf sie ein.

Es sind Bilder wie diese, die die rohe Gewalt des russischen Staates gegen friedlich umherziehende Menschen dokumentieren. Da stürmen Polizisten in voller Montur auf Taxis los, zerren mit aller Kraft die Passagiere heraus. Sie umstellen Autos und hauen auf die Motorhauben der Fahrzeuge, weil die Au­to­fah­re­r*in­nen aus Solidarität mit den Protestierenden ihre Hupe betätigt haben.

Der Vergleich zu einem anderen Land, zu einem anderen Protest liegt nah: Belarus, der westliche Nachbar Russlands. Seit der offensichtlich gefälschten Wahl, bei der sich der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko zum überragenden Sieger erklärte, haben viele Belarussen damit aufgehört, die Lügen des Regimes noch länger hinzunehmen. Seit bald einem halben Jahr gehen sie immer wieder auf die Straße, trotz Polizeigewalt, trotz des repressiven Vorgehens des Staates. Um Protestierende von ihrem Protest fernzuhalten, ließ Lukaschenko Metro-Stationen in Minsk sperren, ließ das Internet drosseln, ließ Polizisten immer wieder wahllos Menschen festnehmen und diese brutal zusammenschlagen.

Auch quer durch Russland spielten sich solche Szenen ab, vor allem in Moskau und Sankt Petersburg. Der Protest in Belarus war jedoch von größerer Dimension und stets breiter aufgestellt. Die einigende Idee: Lukaschenko muss abtreten, freie Wahlen sollen folgen. Zuweilen streikten gar Staatsbetriebe.

Der Protest in Russland vereinigt hinter der Losung „Freiheit für Nawalny“ unterschiedliche Beweggründe der Menschen. Die einen kämpfen tatsächlich ausschließlich für den inhaftierten Oppositionspolitiker Alexei Nawalny, andere setzen sich für lokale Anliegen ein. Den Protestzügen schloss sich in Moskau kaum jemand spontan an. Die Gewalt der Polizei nahm schnell vielen die Freiheit – und den Mut. Der Kampf um die apolitische Mehrheit des Landes beginnt erst.

Dabei fange der Kreml nur langsam an, die Instrumente aus seinem Werkzeugkasten für Gewalt und Einschüchterung auszupacken, schreibt der russische Politologe Alexander Gabujew. Der Staat habe aus den Protesten in Belarus gelernt und setzte auf die Kombination aus kalkulierter Brutalität, Druck durch harte Gesetze und Geduld. Die Elite stehe hinter Putin, der Sicherheitsapparat sei loyal, die Bevölkerung wage es nicht, Putins Herrschaft infrage zu stellen.

Der abschreckende Staat habe die Knüppel, die moralische Stärke aber, so sagt es der russische Politologe Andrei Kolesnikow, sei aber aufseiten der Protestbewegungen: in Russland wie in Belarus. Inna Hartwich