berlin viral: Wann ist das Lesen abgeschafft worden?
Es ist der zehnte Pandemiemonat. Ein Ende scheint nicht in Sicht. Zum Glück bleiben wenigstens die Schulen geschlossen. Homeschooling klappt aber natürlich immer noch nicht problemlos. Unlängst musste der Teenager sehr früh aufstehen, weil für 8 Uhr die erste Mathe-Konferenz angekündigt war. Die begann dann aber doch erst nach 9 Uhr. Raten Sie mal, wer die geballte Wut darüber abbekommen hat? Genau.
Seit ich kürzlich einen Artikel über „Homeschooling“ gelesen habe, denke ich ganz neu über dieses Thema nach. Dort stellten Redakteur*innen Bücher vor, die sie in ihrer Schulzeit hatten lesen müssen. Das ließ mir keine Ruhe, und so kramte ich aus meinem Regal die Bücher hervor, die während meiner Gymnasialzeit in den 1980er Jahren Pflichtlektüre waren. Dann stapelte ich sie auf dem Esstisch auf, es waren 13 Stück. Anschließend schrieb ich die auf eine Liste, die mir außerdem noch einfielen, ich aber nicht mehr besaß. Von etlichen zerfledderten Reclam-Ausgaben hatte ich mich getrennt. Und das langweiligste Buch meiner Schulzeit, Heinrich Manns „Professor Unrat“, habe ich vermutlich nach der letzten Abiturprüfung mit meinen restlichen Schulunterlagen genüsslich im Außenkamin meines Elternhauses verfeuert. Einer der besten Momente meiner Schulzeit übrigens. Wo war ich?
Ach ja, die Bücher. Daneben lasen wir noch unzählige Kurzgeschichten, Romanauszüge, Gedichte. Und zu allen musste immer viel geschrieben werden. Merken Sie was? Für diese antiquierte Art von Literaturvermittlung war kein Internet notwendig. Nur: ein Buch, ein Stift, ein Blatt Papier. Faszinierend.
„Was ist das denn?“, fragte mein 15-Jähriger beim Nachhausekommen mit Blick auf den Bücherstapel (von dem er kein einziges Buch kannte). „Haben wir in der Schule gelesen“, erwiderte ich. „Was musstest du eigentlich bisher lesen?“ Er dachte kurz nach. „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran‘“, sagte er dann. „Und „Emil und die Detektive“. Wann, so frage ich mich seitdem, ist das Lesen an deutschen Schulen abgeschafft worden? Und vor allem: warum?
Ich stelle mir das so vor: Nach dem großen Pisa-Schock stellte die Kultusministerkonferenz fest, dass Computer eine wichtige Rolle im Leben der meisten Menschen spielen und dass sie in anderen Ländern sogar im Schulunterricht eingesetzt wurden. Sie verfielen für ein paar Jahre in angestrengtes Grübeln. „Wir müssen da auch was machen“, war die erschreckende Erkenntnis. Um dann, in einem Anfall von vorgetäuschtem Aktionismus, zu konstatieren: Bücherlesen ist nicht mehr zeitgemäß, das streichen wir aus den Lehrplänen. Vielleicht noch mit der beliebten Begründung, dass gerade arme Familien sich gar keine Bücher leisten könnten, und im Rahmen der Chancengleichheit solle das Internet zukünftig eine größere Rolle spielen. So muss es gewesen sein.
Tja, und dann waren sie mit der Technik so überfordert, dass es jetzt eben weder Bücher noch Tablets gibt. Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen