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: Die Todesangst der Konservativen

Durchschlafen ist ein Traum. Jede Nacht wird mindestens zweimal unterbrochen, von wirren wie von kristallklaren Träumen, und die wenigsten haben mit Corona zu tun. Diese Schlafprobleme sind überindividuell, sie betreffen derzeit fast jede und jeden. Auch die psychosomatischen Effekte nehmen zu – das ganze Spazieren kann das Schwimmen oder den Fußball eben nicht ersetzen. Und nein, auch das Heimtraining und das ganze Yoga können das nicht.

Allmählich mutet der Lockdown wie eine neue, nicht mehr abzuweisende Realität an, eine ins Endlose laufende Realität, und die neuen Mutanten, die erst als Schreckensgespenster genau dann auftauchten, als man wegen der Impfstoffe endlich Hoffnung geschöpft hatte, lösen nur noch ein fatalistisches Achselzucken aus. Die Leute draußen imitieren trotzdem weiter lustig ein Leben, dessen Zusammenbruch nicht mehr weit sein kann. Man spaziert, man blinzelt in die Wintersonne, man macht Fotos, fährt zur Arbeit und geht dort einkaufen, wo man einkaufen gehen kann.

Ein Freund meinte neulich am Telefon, dass die Maßnahmen auch eine Generationsfrage sind. Die vorherrschende Angst erkläre sich schon demografisch: Wir leben in einer überalterten Gesellschaft; die „Risikogruppe“ macht allein schon 40 Prozent der Bevölkerung aus. Ich halte dagegen, dass es gerade auch die jungen Menschen aus meiner politisch gefärbten Filterblase sind, die sich sehr rigide für die Regeln einsetzen und alle zur Einhaltung anmahnen. Das Interessante an der Idee #ZeroCovid (die im Übrigen erschreckend schnell verpufft ist) war ja, sagte ich zu dem Freund am Telefon, nicht unbedingt das ziemlich absurde Ziel der Forderung, sondern dass überhaupt mal Kritik von links an der Situation laut wurde. Bis dahin wurde hauptsächlich die große blasse Fahne der Solidarität geschwenkt und alles verdammt, was im Bus oder im Supermarkt die Maske nicht richtig aufsetzte, und ansonsten alles gut gefunden, was aus Richtung Drosten, RKI, Bundesregierung kam.

Es herrsche die Todesangst der Konservativen, sagte er. An die jungen Leute um die 20 denke kaum einer, sagte er. Die stehen sowieso – Stichwort Klimakrise, Stichwort fortschreitende Globalisierung – vor einer dysfunktionalen Zukunft, und jetzt wird mit der Brechstange Anpassung geübt, statt dass sie sich libertär austoben könnten, wie es vielleicht wichtig wäre für die persönliche Entwicklung. Aber was wäre denn die Alternative?, fragte ich. Den Virus sich entfesseln lassen? Nein, aber tatsächliche Investition ins Gesundheitssystem fände eben nicht statt, ein Umdenken weg vom neoliberalen Profitdenken gebe es null, auch werden Integrations- und Ausbildungshürden nicht die Bohne weggeräumt, sagte er. Das wesentliche Ziel der Politik sei doch, alles so zu belassen, wie es ist, koste es, was es wolle; da sperrt man lieber eine ganze Gesellschaft monatelang in den Lockdown, als wirklich etwas zu ändern.

Und das mit der Schule, also der Wunsch, die Kinder bald wieder in die Schule schicken zu können, damit sie vom Stoff nicht so viel verpassen, sei doch reine Heuchelei, fügte er hinzu. Es ginge doch eher darum, die Eltern für die Lohnarbeit freizuschaufeln. Eltern beim Homeschooling kosten den Arbeitgebern zu viel Geld, sagte er. Hm, tja machte ich. René Hamann