Die Wahrheit: Friedhof der Anschriften
Gegen den Sensenmann und das Grauen des Todes hilft nur ein heftiges Lachen – vor allem wenn man vor Weihnachten unangenehme Dinge tun muss.
„Mein Adressbuch gleicht einem Friedhof“, sagt Robert De Niro alias Noodles in dem Gangsterfilm „Es war einmal in Amerika“. Moment mal! Sagt er das wirklich in dem Film? Oder trügt mich die Erinnerung? Weil ich gerade mit einer der unangenehmsten Aufgaben des Jahres beschäftigt bin und dann gern die Gedanken abschweifen – zum Beispiel nach New York, wo ich im vorigen Jahr, als Reisen noch möglich war, unter der Brooklyn Bridge stand, an der Stelle, an der im Film die schrille Panflötenmusik von Ennio Morricone einsetzt, wenn einer der Freunde von Noodles erschossen wird. Ich hatte dort, noch vor der Pandemie, das diffuse Gefühl, an einem Ort zu sein, der einem Friedhof gleicht.
Eine ähnliche Ahnung von Grabstätte überkam mich davor nur im Sommer 1989, als ich in die DDR reiste und in Neustrelitz einen nächtlichen Fackelzug der FDJ beobachtete, die mit ihrer kümmerlichen Flackerdemonstration den untergehenden Staat zu retten versuchte. Eine Zeitenwende würde bevorstehen.
Zum Ende jedes Jahres verschicke ich traditionell an die Wahrheit-Autoren einen Gruß und Dank für die „wunderbare Zusammenarbeit“ in der zurückliegenden Zeit. Das Kapital eines Redakteurs sind seine Adressen, die gepflegt und gegen den natürlichen Schwund durch Tod, Feindschaft und Abwanderung verteidigt werden müssen. Alte Kräfte stärken, neue Köpfe zuführen, lautet die Devise. Es lebe der redaktionelle Kapitalismus!
Durchsicht der Totenliste
Das Adressbuch zu aktualisieren, ist eine leidige Arbeit. Sämtliche Anschriften von Autoren, Zeichnern und Freunden der Wahrheit werden akribisch auf ihre Korrektheit hin überprüft. Und dennoch kommen jedes Mal rund zehn Prozent der Mails zurück mit dem Vermerk „Mail Delivery Subsystem“, was bedeutet, die Adresse ist nicht mehr gültig oder wurde falsch notiert oder jemand ist verstorben. Und das ist dann der Anlass, die Totenliste durchzusehen.
Zu viele Namen von Toten stehen in meinem Verzeichnis, Abteilung Friedhof. Da sammeln sich die virtuellen Grabsteine. Am schlimmsten ist es, wenn man in der Weihnachtszeit einen Nachruf auf einen Freund schreiben muss. Nur im paradoxen Coronajahr hat bis jetzt zum Glück noch niemand den Wahrheit-Kosmos verlassen. Aber es gibt ja noch den irren Orange Man Trump, der demnächst wahrscheinlich nicht nur Amerika in die Luft fliegen lässt, wenn er am letzten Tag seiner Amtszeit den roten Knopf drückt. Das wäre dann eine ganz neue Art von Zeitenwende. Wie heißt es in „Es war einmal in Amerika“ so zielsicher? Und wenigstes dieses Zitat ist verbürgt und nicht erfunden: „Das Leben ist verrückter als Scheiße.“
Um aber die ganze Scheiße und das Grauen des Todes zu bannen, hilft nur das Lachen über meinen absoluten Lieblings-Cartoon: Der Sensenmann klingelt an der Haustür des greisen Johannes Heesters. Als der unverwüstliche Entertainer den Tod erblickt, dreht er sich um und ruft seiner weit jüngeren Gattin zu: „Simone, für dich!“
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